Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 796

Der Entwicklungsgang Leo Tolstois (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 796

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796 SCHMITT.

sie die borniert endliche, selbstische Individualität weder im Himmel,
noch auf Erden überwunden, dass sie das Heidenthum nicht über-
wunden hatte in sich selbst, sondern seiner Reaction verfallen war im
Byzantinismus, im Katholicismus, in der Renaissance und Reformation.
Im Himmel blieb ein menschenähnlich selbstischer und entsetzlich
grausamer Herr und Fürst dieser Welt thronen, der das Ideal und
Musterbild blieb für den borniert, endlich in seinem Selbst befangenen
Menschen, der sich knechtisch seinen äusseren Geboten beugen sollte
und doch nur eine eines solchen himmlischen Despoten ganz würdige
Welt der Tyrannei und Rechtsseligkeit gestalten konnte und eine
Geschichte verwirklichen, die die Grausamkeit selbst der Despoten
von Assyrien und der Grosschane der Mongolen überbot. Tolstois
Denkweise steht in dem Masse auf dem Boden eben dieser
christlichen Welt, ist in dem Masse urchristlich, dass er übersah,
dass der Mangel dieser urchristlichen Anschauung eben darin bestand,
dass sie die Individualität nicht zu vollem Selbstbewusstsein ihrer
göttlichen Herrlichkeit, ihres Allbewusstseins zu erwecken vermochte
und dass sie die Sinnlichkeit nur abstract verneinte, auf Ertödtung
des Fleisches hinstrebte, den Menschen zum abstract geistigen Wesen
zu machen suchte, anstatt das himmlische Leben in seiner Allheit und
Göttlichkeit zu schauen und auch in seinen endlichen Momenten als
Darbildung und Spiegelbild dieser Allheit — im Schönen. Diese Seite
der Individualität und Sinnlichkeit kommt zur Geltung im Gegenpole
Leo Tolstois, in Friedrich Nietzsche, der wieder ebenso einseitig die
Seite der Gemeinschaft, der Unendlichkeit, des Communismus in den
Hintergrund treten lässt, so dass auch hier das Endziel, die göttliche
Natur der Individualität, nicht zur vollen Geltung kommen kann und
die Weltanschauung auf jenem Gegenpole gleichfalls schwankend bleibt.
Sie schwankt dort zwischen der prachtvollen Bestie und dem Über-
menschen mit seiner hingebenden grossen Liebe. Es ist dies ein
Gegensatz, der verdiente, näher ausgeführt zu werden.

Tolstoi im Gegentheil legt ein Hauptgewicht auf die christliche
Demuth, auf die Verneinung und Verleugnung der Individualität, auf
die Verneinung des Sinnenlebens, auf die Kreuzigung des Fleisches. Er
sieht in der Renaissance, die Nietzsche verherrlicht, einen tiefen Verfall,
und seine Ästhetik ist, wie seine Schrift über die Kunst zeigt, die
Ästhetik der Kirchenväter. Und doch streben beide Heroen auf dasselbe
Endziel los, eben weil sie sich in ihren Gegensätzen ergänzen.

Leo Tolstoi ist die Reaction des Urchristenthums, die sich aber
heute auf einer ungleich geklärteren, vorgeschritteneren Stufe des Be-
wusstseins vollzieht und deren eigentliche Bestimmung daher auch nicht
sein kann, in die kindliche Einfalt jener Zeiten, wo die Wiege des
Christenthums stand, zurückzuführen, sondern die erhabene Einfachheit
jener ewigen Wahrheiten, die sich jenem kindlichen Bewusstsein noch
im Bilderschleier verbargen, im Reichthum eines höheren Erkennens und
untrennbar hievon endlich auch im Leben einer vom Gottbewusstsein
des Menschen durchleuchteten Cultur zu entfalten.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 796, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0796.html)