Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 795
Text
lichen Welt. Es bedurfte einer Entwicklung von beinahe zwei Jahr-
tausenden, um diese geniale Anticipation, nachdem sie philosophisch
auseinandergelegt war, dem allgemeinen Bewusstsein zugänglich zu
machen. Der Hauptgestalt der Evangelien war eine andere voran-
gegangen, die die Abkehr von der alten Welt naiv roher Sinnlichkeit
und Selbstheit darstellte: der Prediger in der Wüste, Johannes der Täufer.
Ein neuer Johannes der Täufer des nun kommenden Weltalters,
betritt Leo Tolstoi die Weltbühne. Er kleidet sich aufs ärmlichste in
selbstverfertigte Kleider, zieht sich aus dem Gewühle der Welt auf
seinen Landsitz zurück und predigt das Herannahen des neuen Heiles.
Und doch, wie gewaltig hat sich seitdem die Lage geändert! Nicht
mehr die naive, in roher Urkraft mit gutem Gewissen masslos schwel-
gende, mit der Unschuld des Tigers würgende prachtvolle Thierheit,
nicht der feuerspeiende Drache der alten Welt steht nun der neuen
Weltidee gegenüber, sondern eine raffinierte, sieche, mit schlechtem
Gewissen schleichende Schlange ist dies Princip der heute noch herr-
schenden Thierheit geworden. Kein Herodes wird es mehr wagen, im
wilden Herrschertrotze diesem neuen Johannes das Haupt abzuschlagen —
diesem Johannes, der bei einer Gelegenheit (es war eine Publication
über den wegen Militärverweigerung zu Tode gemarterten Droschin)
den allmächtigen Selbstherrscher Russlands so anzureden wagte: »Du
weisst, dass du von Verbrechen und Lüge lebst! Wie kannst du dich
ruhig zu Tische setzen, wie kannst du deine Kinder segnen, wo du
weisst, dass ein so edler Mensch im Gefängnis auf hartem, kalten
Boden liegt und deinetwegen zu Tode gequält wird!« Und der Sohn
dieses selben Herrschers verkündet heute laut der Welt die Überzeugung,
dass Gewaltthat und Massenmord nicht glorreiche, rühmenswerte That,
sondern etwas ist, dessen sich der Mensch auf der heutigen Cultur-
stufe zu schämen hat.
Klar aber ist für Tolstoi nur die Nichtigkeit, die Elendigkeit der
bloss leiblichen, bloss thierischen Existenz und Ichheit. Aber das Ich,
die Individualität des Menschen erscheint Tolstoi noch immer als
endliches, das göttliche Leben als dies Gemeinsame, in welchem alle
Individualität sich auflöst; die Gottheit als unerfassbare Allgegenwart,
die dem Gefühle nur dunkel, wenn auch unzweifelhaft einleuchtet. Aller-
dings ist dieser Standpunkt nicht folgerichtig festgehalten in den
Schriften Tolstoi’s. Er fühlt, dass das Ich, die Individualität in irgend
einer Weise Antheil habe am göttlichen und ewigen Leben, ohne
erklären zu können, wie dies bei dem blos Endlichen möglich ist, das
doch durch eine unendliche Kluft getrennt ist von dem Göttlichen, dem
Unendlichen. Die Weltanschauung Tolstois ist daher unentfaltet,
sie dämmert im unbestimmten Morgenlichte. Tolstoi fühlt, dass die
Entfaltung des Allbewusstseins in der Individualität fehlt und darum
betont er eben die Seite der Gemeinschaft, des Communismus, die
in seiner ganzen Lehre einseitig zur Geltung kommt, auf Kosten der
Individualität, der Selbstheit. Er fühlt auch sehr richtig, dass ein
Hauptmangel der sogenannten christlichen Cultur darin bestehe, dass
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 795, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0795.html)