Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 794
Text
diese Scene die tiefste Wirkung. Es war Graf Leo Tolstoi. »Was für
erbärmliche, bedauernswerte Menschen sind doch wir, die Hoch-
gebildeten, Hochstehenden, Reichen, Mächtigen neben diesem einfachen
Bauern,« sagte er sich und fühlte sich in seinen Anschauungen, die
eine Umgestaltung des ganzen Denkens und Lebens auf Grund der
Lehren der Evangelien fordern, aufs mächtigste bestärkt.
Diese Lebenslehren des Evangeliums treten jedoch Tolstoi nur
noch als einfache Gebote entgegen, als Lebensregeln, die befolgt
werden sollen, weil sie die allein wirklich praktischen, die allein zur
Zufriedenheit und zum Wohlsein der Menschen führenden Gebote sind,
als jene Lebensregeln, die allein aus dem Sumpfe sittlichen und
materiellen Elendes führen, in welchem die Menschheit versunken ist,
— aus dem sittlichen Elend, welches nicht bloss die Herrschenden
ergreift, sondern auch die unteren Schichten ansteckt; aus jenem
materiellen Elend, welches nicht bloss auf den Enterbten lastet, sondern
in der Gestalt conventioneller Gebundenheit und Entbehrung wirk-
lichen Naturgenusses und des Genusses menschlich freier Gesellung,
dann in den mit einer unnatürlichen und schwelgerischen Lebensweise
verbundenen Krankheiten und allerlei Siechthum auch die herrschenden
Classen ergreift. Aber keinerlei solche schöne Lebensregeln und praktisch
noch so einleuchtenden Gebote können die Lebensgestaltung der
Menschheit ändern, so lange die allgemeine Weltanschauung sich nicht
gründlich umwälzt, so lange der Mensch sich nur als dieses in sich
eingeengte thierisch-endliche Leben erscheint wie in der bisherigen
Welt, wo die äussere Autorität der Gebote der Gottheit in der Aus-
gestaltung der menschlichen Gesellschaft der Ergänzung durch die
Schrauben und Klammern, durch die Fesseln äusserer thierischer
Gewalt bedarf, weil im Selbstbewusstsein der einzelnen das innere
Band fehlt. Nur eine Weltanschauung, in welcher jeder einzelne das
Leben der Allheit in seine Ichheit und Innerlichkeit versenkt hat und
dieses selbe göttliche Leben, diese Paradiesesherrlichkeit in seinem
Mitmenschen schlummern sieht, selbst im versunkensten, und sich
selbst, sein eigenes göttliches Leben verherrlicht sieht, wenn er dies
göttliche Selbstbewusstsein im andern erweckt, wird die Anwendung
thierischer Gewalt, die Gesetz und Heiligthum sein mag, für eine
barbarische Stufe der Weltanschauung, als etwas erscheinen, was den-
jenigen, der sie gebraucht, aus jenen Höhen einer milden Majestät herab-
stürzt und zur Thierheit erniedrigt. Hier allein, im göttlichen Allleben der
Individualität erscheinen jene hohen Gebote göttlicher Milde begründet
in dem ureigenen Leben jedes Ich, jeder menschlichen Individualität.
In künstlerischer, genialer Anschauung hatte schon Einer diesen
welterlösenden Gedanken erfasst, der Bergprediger, der da sagte: »Ich
bin das Leben«, »Ich bin die Wahrheit«, Ich bin das Licht der Welt«,
»Ich und der Vater« (dieser Urquell und diese Ureinheit der Wesen,
die er die Liebe nennt) »sind Eins«. Doch geniale Anschauungen
können nicht mitgetheilt werden: sie blieben Gegenstand der Bewun-
derung und der äusseren abergläubischen Vergötterung in der christ-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 794, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0794.html)