Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 793

Der Entwicklungsgang Leo Tolstois (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 793

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DER ENTWICKLUNGSGANG LEO TOLSTOIS. 793

sich auch Turgenjeff befindet. Der nun folgende Lebenslauf ist der
des Cavaliers, der theils der Bewirtschaftung seiner Güter und dann
auch seinen Vergnügungen lebt, zweimal auf längere Zeit im Aus-
lande verweilt, u. a. auch in Paris, dessen Gesellschaft mit ihrem
Luxus und ihren Lustbarkeiten ihm Gelegenheit bietet, die moderne
Décadence in ihrem culturellen Mittelpunkte gründlich kennen zu lernen.
Andererseits ist seine Laufbahn die des Literaten und Romanschrift-
stellers, der mit den besten russischen Schriftstellern mit Erfolg wett-
eifert und dessen Ruhm von Jahr zu Jahr steigt. Auch beschäftigt
sich Tolstoi schon in dieser Periode seines Lebens eingehend mit den
Fragen der Erziehung des Volkes. Um Wohlsein und Fortschritt des
in Unwissenheit und roher Einfachheit versunkenen Volkes zu fördern,
beschäftigt er sich Anfangs der Siebziger-Jahre mit volkserziehlichen und
wirtschaftlichen Fragen und veröffentlicht diesbezügliche Schriften. Mit
dem Ende der Siebziger-Jahre aber sieht er die Fruchtlosigkeit aller seiner
bisherigen Bestrebungen ein, und es tritt die grosse Wendung ein,
die zu seiner Laufbahn als religiöser Erneuerer führt.

In seiner »Beichte« führt Leo Tolstoi an, dass er sich eine Zeit-
lang mit den einfältigen religiösen Anschauungen des Volkes zu
identifizieren suchte. Und hier war es merkwürdigerweise ein bäuer-
licher Sectierer namens Sutajeff, der zu der eigentümlichen Wendung,
die Leo Tolstoi später nahm, wesentlich beitrug. Diesem Sutajeff starb
eine Tochter und der Pope wollte ohne Entrichtung der Gebüren,
deren voller Betrag dem armen Muschik nicht zu Gebote stand, die
Verstorbene nicht beerdigen. Sutajeff begrub daher sein Kind mit
eigenen Händen. Er will aber die heiligen Schriften, die dem Priester
eine solche Moral lehren, kennen und lernte mit vieler Mühe im vor-
geschrittenen Alter lesen und findet nun im Evangelium ganz andere
Sachen, als die Priester ihm verkünden. Es wurde ihm ein Kind
geboren, das er zur Taufe zu tragen unterlässt, da über Kindertaufe
im Evangelium nichts zu lesen ist. Da erscheint der Pope und zieht
ihn deswegen zur Rechenschaft. Sutajeff hält ihm das Evangelium
entgegen, welches der erzürnte Priester zur Erde schleudert. »Nun
bin ich im Reinen mit eurer Religion« und verkündet dem Volke
seine Lehre. Diebe tragen Säcke aus seinem Speicher, er findet noch
einen zurückgelassenen Sack, trägt ihn den Dieben nach und sagt:
»Ihr müsst schweren Hunger leiden, dass ihr zum Diebstahl greift;
nehmt auch diesen Sack noch.« Die überraschten, tief ergriffenen
Diebe bringen ihm alle Säcke zurück, flehen um Verzeihung und
werden seine Anhänger. Eine Bettlerin, die er im Kreise seiner Familie
bewirtet hat und der er Nachtlager gab, bestiehlt ihn; sie wird am
Wege von den Landleuten ergriffen. Auf den Tumult erscheint Sutajeff.
»Sie ist eine Diebin, ins Gefängnis mit ihr,« ruft die Menge. »Was
wollt ihr mit diesem Weibe?« entgegnet Sutajeff. »Wenn sie ein-
gekerkert wird, wird sie nicht besser, eher noch schlechter. Ich schenke
ihr alles, was sie genommen hat und noch mehr, sofern sie mehr
bedarf. Lasset sie frei!« Auf einen zufälligen Augenzeugen machte

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 793, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0793.html)