Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 792

Der Entwicklungsgang Leo Tolstois (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 792

Text

792 SCHMITT.

Aber der Niedergang der bestehenden Cultur bedeutet zugleich den
herannahenden Sonnenaufgang einer neuen Cultur.

Das Problem der Cultur tritt aber nicht Wie einst bei Descartes
als Problem des Denkens, sondern unmittelbar als Problem des
Lebens in den Vordergrund mit Leo Tolstoi.

Dieser Bruch mit dem alten Leben der Cultur, mit dem alten
Menschen, wie er sein Leben individuell und gesellschaftlich gestaltet,
kann nun in der schärfsten, in der unwiderruflichen Weise, wie es
Cultur gestaltend, in das allgemeine Leben übergreifend sich darstellt,
wieder nicht ein Mensch zum Ausdruck bringen, der selbst ursprünglich
in einsamem Denken oder in einsamer Selbstbetrachtung sich bewegt,
sondern nur ein Mensch, der vielmehr in das Wogen der bisherigen
Cultur in den Taumel ihres engherzigen Sinnenlebens vollkommen
versunken war, während ihn, seiner hohen Anlagen entsprechend, die
Ahnung des ungleich Erhabeneren, Höheren, Vorgeschritteneren ergreifen
müsste. Einen solchen Menschen allein konnte der Ekel und Über-
druss, ja die ganze Qual der Enge und Niedrigkeit der bisherigen
Gesinnung und Lebensweise mit voller Macht ergreifen und sich bis
hart an den Rand des Selbstmordes steigern. Es war die intellectuelle
und sittliche Enge der Weltanschauung und der mit ihr organisch
verknüpften Lebensgestaltung, die diesem äusserlich in den glänzendsten
Lebensverhältnissen befindlichen Manne das Dasein unerträglich machte.
In einer solchen Persönlichkeit allein kann sich der Bruch des Zeit-
alters mit sich selbst individuell lebendig ausprägen und wird das all-
gemeine Leiden der Menschheit als persönlichstes Leiden empfunden.
Durch Persönlichkeiten allein, die hiezu prädisponiert sind, vermittelt
sich so der Umschwung des Zeitalters selbst. Denn mögen allgemeine
Verhältnisse noch so dringend einen Umschwung wünschenswert er-
scheinen machen, die Individualität allein, die diese Noth und Noth-
wendigkeit des Zeitalters als persönlichste Noth und Notwendigkeit
empfindet, ist die Achse der Weltgeschichte und nimmermehr wird
die Sonne, die nicht zuerst die höchsten Gipfel beschien, die breiten
Massen der Berge und die Niederungen erleuchten.

Äusserlich zeigt der Lebenslauf Leo Tolstois in wesentlichen
Zügen viel Ähnlichkeit mit dem Lebenslaufe Descartes’. Wir fügen
hier eine flüchtige Skizze desselben an. Am 9. September 1828 auf
dem Familiengute Jasnaja Poljana im Gouvernement Toula geboren,
studierte er 1843 an der Universität Kasan erst orientalische Sprachen,
bald Jurisprudenz. Nach zweijährigem Aufenthalte auf dem Familiengute
gute widmet er sich 1851 der militärischen Laufbahn; er wird Artillerie-
fähnrich im Kaukasus) wo der Dienst damals meist ein permanenter
gefahrvoller Kriegsdienst war. Schon hier beginnt er seine literarische
Laufbahn. Er macht den Krimkrieg als Artillerieofficier mit und nimmt
dann seinen Abschied vom Militär. Seine Kriegsjahre bieten ihm
Gelegenheit zu einer Reihe literarischer Darstellungen, in welchen er
das Sebastopol jener Zeiten schildert. 1856 schliesst er Freundschaft
mit einer Reihe hervorragender Schriftsteller Russlands, unter welchen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 792, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0792.html)