Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 791

Der Entwicklungsgang Leo Tolstois (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 791

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DER ENTWICKLUNGSGANG LEO TOLSTOIS. 791

und der Herrschaft der ganzen in ihrem Marke siechen und elenden
Herrlichkeit dieser Welt gegenüber die Grundsätze des Bergpredigers
verkündet: die Grundsätze des unendlichen Erbarmens und der
Gewaltlosigkeit, der Verneinung des Fleisches und die Kunde
von dem herannahenden Himmelreiche des Geistes, welches die
allverbindende Liebe ist in allen und über allen, die einzige lebendige
Gottheit, die er den Dogmen und Phantomen theologischen Aber-
glaubens entgegenhält, jenen Kirchen, die Christus mit dem Munde
bekennen und im Leben verleugnen; die die Stützen einer auf Blut
und Eisen und Verbrechen jeder Art gebauten Gewaltherrschaft
sind; die das Evangelium der Reichen verkünden anstatt des Evange-
liums der Armen.

Schon einmal war es ein Officier gewesen, der nach einem be-
wegten Leben, nachdem er viele Feldzüge in aller Herren Länder
mitgemacht, sich in die Einsamkeit zurückgezogen, um in den Tiefen
der Gedankenwelt den Ausgangspunkt zu suchen für eine neue Cultur.
Dieser Mann war Descartes. Es war ein grossartiges Schauspiel,
als die dichtumwölkte Nacht des Mittelalters, die dem Geist nur
gestattete, sich in den Träumen der Theologie zu bewegen, sich auf-
zuhellen begann; als der Mensch aus den Träumen der Jenseitigkeit
zur Wirklichkeit seines Alllebens oder, was dasselbe heisst, seiner
Geistigkeit erwachte. Die Sonne eines neuen Lebens war noch ferne, nur
die dunklen Umrisse des Nachthimmels der Cultur, der in sich ver-
schlossenen, vereinsamten Abstraction, boten sich den Blicken, eine
Nacht, erhellt nur von den einzelnen Sternen der Philosophie, die am
Himmel des Geistes leuchteten. Es war jedoch kein Zufall, dass der
Mann, der diesen grossen Umschwung, diese selbstbewusste Enthüllung
des Geheimnisses des Christenthums vorbereiten sollte und in die ein-
samen Tiefen der Individualität stieg, um hier den Schlüssel aller
Erkenntnis, den Schlüssel einer neuen Cultur zu finden, nicht im vor-
hinein ein einsamer Denker, sondern eine aus den wildesten Wogen
des Lebens hervorgehende Persönlichkeit war. Die Überwindung dieses
Verlorenseins des Bewusstseins in der Sinnenwelt, die Überwindung
der ganzen naiven Entäusserung konnte so allein plastischen, lebens-
vollen, unmittelbar in das Leben greifenden Sinn gewinnen, er konnte
den wesentlichen Mangel dieser in der Äusserlichkeit des Lebens ver-
lorenen Cultur so allein in voller Schärfe erfassen und das Bedürfnis
nach einer allgemeinen Vertiefung des Bewusstseins so allein epoche-
machend vorbereiten. Es war das Problem des Denkers, der die
leuchtenden Worte: »Ich denke, also bin ich« an den Eingang der
modernen Philosophie schrieb, so ein unmittelbares Lebensproblem für
den aus dem stürmischen Kriegerleben in die einsame Zelle des Philo-
sophen sich zurückziehenden Officier. Und so allein konnte diese
Wendung des Denkers eingreifen in das Mark des Culturlebens und
in den grossen Gang der Geschichte.

Einstweilen hatte sich die Zersetzung der alten Religion und
mit ihr der alten Sitte, des alten Rechtes in grossen Zügen vollendet.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 791, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0791.html)