Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 790
Text
Von Dr. EUGEN HEINRICH SCHMITT (Budapest).
In Leo Tolstoi steht eine der grossen Gestalten der Welt-
geschichte vor uns, eine der Gestalten, die als Pfeiler dastehen an den
Wendepunkten von Culturen, die einerseits in die Vergangenheit zurück-
weisen, anknüpfend an uralte Traditionen, andererseits in die Zukunft
weisen, auf neue Pfade, die das Geschlecht im Verlaufe seiner Ent-
wicklung erst betreten soll. Das Leben solcher Menschen erscheint als
kein zufälliges in der eigenthümlichen Verkettung seiner Momente.
Eine tiefere Nothwendigkeit fügt die einzelnen Stadien eines solchen
Lebenslaufes zu einem planvollen Ganzen, in welchem jedem dieser
Momente eine tiefere, man könnte sagen providentielle Bedeutung zu-
kommt. Nur solche Individualitäten, deren Lebenslauf sich in so eigen-
thümlich bedeutungsvoller Weise zu einem Ganzen verkettet, wo alles
auf ein Ziel concentriert erscheint, wo die Geschicke der Individualität
mit den grossen Zielen der Menschheit verschmelzen, können zu so
grossen culturellen Aufgaben befähigt sein.
Der Lebenslauf Leo Tolstois bewegt sich in den äussersten Gegen-
sätzen. Der Sprössling einer der vornehmsten Aristokratenfamilien
Russlands, der sich dem Militärstande widmet, als Artillerieofficier
den Krimfeldzug mitmacht, dann als Grossgrundbesitzer einerseits den
Interessen seiner Wirtschaft lebt, die ihn in engere Berührung mit dem
Landvolke bringen, sich als Cavalier und Lebemann andererseits in
den Strudel des Lebens wirft, um seine Revenuen im Inlande und
im Auslande standesgemäss zu geniessen, der seine Erfahrungen und
Studien in einer Reihe literarischer Productionen verkörpert, in denen
er seine hervorragende Begabung in der Darstellung von Lebensver-
hältnissen und Seelenzuständen bekundet und sich dadurch einen
glänzenden Namen in der Romanliteratur der Gegenwart erwirbt, kehrt
plötzlich auf dem Wendepunkte seines Lebens allen diesen Lebens-
grundsätzen und Schöpfungen den Rücken, erklärt sein eigenes
Leben nicht bloss, sondern auch das der ganzen »gebildeten« und
herrschenden Gesellschaftsschichten für ein verfehltes, tief elendes, ver-
achtenswertes; preist einem solchen Leben gegenüber das des armen
unterdrückten, darbenden, geknechteten und unwissenden Volkes
selbst als relativ glücklich. Er macht die Sache dieser Armen und
Nothleidenden zu seiner Sache, er sucht seine Befriedigung, sein Glück
darin, dass er einen Theil ihres Elends auf sich nimmt, sich in der
ärmlichsten Weise, ohne Genuss von Fleisch und Wein nährt, seine
Kleider und Schuhe selbst anfertigt, und den Grundsätzen des Prunkes
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 790, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0790.html)