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Als dann aber die Reihe an ihn kam, was für ein armselig
Ding da draussen im Sturm schien ihm seine zierliche Philosophie!
Da war es schon eher die Philosophie, die bei ihrem Philosophen
Zuflucht suchte, als dass sie ihm Zuflucht gewähren konnte! Und
doch: vielleicht ist diese Philosophie weniger im Unrecht gewesen,
als vielmehr zu frühzeitig gewachsen — vor, statt nach der Erfahrung?
Die Zuversicht, die standhaft trägt, muss aus dem Augenblick sich
emporringen, wo die Seele ihrer am meisten bedarf. Für jede Qual
ihren eigenen Frieden. Wir vermögen dem plötzlichen Streich des
Geschicks ebenso wenig vorzubeugen wie dem Überfall eines Feindes,
den wir nicht kennen. Vergebens üben wir uns in geistigen Schein-
gefechten, vergebens verbessern wir alle bekannten Waffen der Ver-
theidigung — der Schmerz kämpft stets mit einer anderen Waffe
und die Strategie seines Angriffs ist immer neu.
Als die Tage vergiengen und seine Trauer immer neue Gestalt
annahm — nichts ist so chamäleonartig wie der Schmerz — kamen
wohl Augenblicke, wo ein kurzer Einblick in die Wahrheit seines
Innern, die Ahnung eines hinter allem liegenden Zweckes, ein tröstender
kleiner Strahl der ausgleichenden Gerechtigkeit seine vertriebene Philoso-
phie wieder schüchtern an die Thür seiner Seele klopfen liess. Aber
das waren Gefühle, die er ärgerlich zurückwies — denn in jedem
Gram ist noch ausser der wirklichen Trauer eine gewisse absicht-
liche Traurigkeit verborgen — die Rahel-Hälfte der Traurigkeit, die
nicht getröstet sein will. Willkür allein ist das nicht, sondern auch
jene Treue im Schmerz, die eine Rechtfertigung durchaus nicht zu-
lassen will — für die andern. Für uns selbst vielleicht — aber wie
steht es dann um sie? Sollen wir ganz unbekümmert ihren Verlust
als unseren Vortheil hinnehmen? Sollten sie in Trauer gesäet haben,
auf dass wir in Fröhlichkeit ernten können? Und dann flüstert die
Stimme wiederum: »Ist es auch ihr Verlust?« Könnte nicht wohl die
geheimnisvolle Kraft durch den Verlust, den sie an uns erleiden, sie
ebenso bilden und veredeln, wie etwa ihr Verlust für uns eine Ver-
edlung und Verschönerung bedeutete? Ach! Wer wagt es zu sagen, was
stärker ist in dieser flüsternden Stimme: unsere sehnsüchtige Hoffnung
für ihr Glück oder für unseres? Ist es nicht bloss unsere Selbstsucht,
die zu sich selber spricht: »Ich will nicht länger unglücklich sein?«
So martert sich die Seele im eigenen Leide. Das schlichte Leid
einer einfachen Natur, in das kein Sonnenstrahl dringt, mag dagegen
eine Wohlthat erscheinen, so unerklärlich verwandelt Schmerz sich in
Genuss; aber das verwickelte Leiden einer vielfältigen Natur, ein
Zustand des Leidens, der sozusagen seine eigene Genussfähigkeit noch
erhalten hat, wo Pein und Wonne beieinander wohnen, stets treu
und dennoch scheinbar unaufrichtig gegen sich selbst — solch’ ein
Schmerz ist von beiden gewiss der qualvollere, tragischere.
Als Mann und Weib an jenem Nachmittage zu einander redeten,
kam des Mannes alte Philosophie sehr eindringlich zu ihm zurück;
desto mehr runzelte er die Stirn, um sie zurückzuweisen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 802, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0802.html)