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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 803

Text

WENN ICH GOTT WÄRE. 803

»Wenn wir wirklich die Schönheit des Geschaffenen zugeben,
so bleibt dennoch der Schaffensprocess nicht minder grausam,« rief
er aus, »nicht minder unvereinbar mit Deinem liebenden und gerechten
Gott! Ach! Ich wünschte nur, ich könnte Gott vergeben «

Ein leises »Halt ein!« kam ihr unwillkürlich auf die Lippen.
An dem Tonfall seiner Worte merkte sie aber, dass er keine Lästerung
beabsichtigte — es klang eher flehend als lästernd, eher hilflos fragend,
als profanierend. Wenn sie ihn doch nur hätte sehend machen
können! Es war ja alles so einfach, so klar. Eine impulsive Un-
geduld kam über sie. »Da sieh!« hätte sie ihm zurufen mögen,
»in einer geraden Linie von hier aus — kannst Du die Sonne
sehen?« Für sie war ja alles so menschlich nah und doch so von Gott
durchdrungen.

Der Mann empfand ein seltsam neues Sehnen — so sehen
zu können, wie sie! Er sass an ihrer Seite wie ein Blinder, dem man
erzählt von einem wunderbaren, allumfassenden Lichte. Es musste
doch etwas sein, was der Mühe lohnte zu sehen, wenn es ihr Antlitz
so leuchten machen konnte.

Fremd war ihm der Ausdruck nicht, obwohl er ihn selten so
hell und heiter gesehen hatte. Auf den Gesichtern ihrer Freundinnen
und Glaubensgenossen lag er überall mehr oder minder, in deren Ge-
sellschaft er die letzten Tage zugebracht hatte. Er nannte ihn halb
scherzend den »Blick der ersten Christen.« Es war wie das
wahre Licht, »desgleichen nie auf Land und Meer gesehen ward.«

In seinem Hospiz war er mit einer kleinen fröhlichen Schar
von solchen Christen zusammengetroffen. Vielleicht war es Zufall,
aber abgesehen davon, dass Christen dieser Art selten sind, selten,
wie die echten Jünger einer jeden mystischen Offenbarung in dieser
grobsinnlichen Welt sein müssen, war dieses Zusammentreffen unserem
jungen Philosophen doppelt auffallend, weil er seit Jahren unter einem
ganz fremden Volke gelebt hatte; so schienen ihm nun diese Christen,
mit ihren seltsam erleuchteten Gesichtern, ihrer eigenartig weltent-
rückten Sprache, ihren vielfachen kleinen Zartheiten und Aufmerksam-
keiten wohl ebenso merkwürdig, wie die ersten kleinen Gemeinden
ihrer geistigen Vorfahren den heidnischen Philosophen in Rom oder
Athen erschienen sein mochten. Doch es war hier das frohe Staunen
einer lange unterbrochenen Vertrautheit und darum nur um so selt-
samer. Denn seine Knabenzeit hatte er unter diesen merkwürdigen
Menschen zugebracht.

Wie erstaunlich, dass sie noch in derselben Weise lebten wie
damals, als er ein Kind war; dieselben Träume träumend und sich
einander erzählend in denselben lieben, ja lieben alten Worten. Beim
Mahle hatten ihre Häupter sich über den Tisch gebeugt und eine
leise Stimme redete wie mit einem Wesen, das man nur mit ge-
schlossenen Augen sieht.

»Denke Dir, sie beten noch immer!« Und ein Etwas, halb
Lächeln, halb Thräne, fragte heimlich sein Herz, ob er doch viel-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 803, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0803.html)