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leicht eines Tages wieder beten könnte — beten (die Thränen traten
ihm in die Augen, als er daran dachte), beten, wie er als kleiner
Junge gebetet hatte, an seines Vaters grossem Lehnstuhl kniend,
während der Vater sich zärtlich über ihn beugte und geheimnisvoll zu
Gott redete mit einer Stimme so echt, so fühlbar Seiner Allgegenwart
nahe, dass man glaubte, Gott könne nicht ferner sein als die Zimmer-
decke — aber man war zu scheu und artig, um hinzuschauen.
Ja! es gab noch Menschen auf der Welt, die konnten beten
trotz einer philosophischen Kritik, die schon lange den lieben Gott
und seine Heiligen in die mythologischen Todtenkammern relegiert
hatte, trotz einer wissenschaftlichen Kritik, welche die Kosmogonie dieser
Gläubigen als den Weltentraum eines Kindes bezeichnet hatte —
unerschütterliche Idealisten, welche keine Theorie des Staubes ein-
schüchtern konnte.
So lange schon daran gewöhnt, alle Erfahrung in Beziehung zu
den Sinnen und zum alltäglichen Verstand zu bringen, war es ihm
wunderlich zu sehen, wie sie in ihrer Sprache, in ihren einfachsten
Handlungen eine unsichtbare Wirklichkeit, eine transcendentale Ver-
antwortlichkeit zum Ausdruck zu bringen schienen. War es denn
wirklich denkbar, dass sie gar nichts gehört hatten — nicht gehört —,
dass dieser ihr Glaube nur ein Traum sei, ein lieblicher Traum, ver-
blasst und verdämmert beim Tagesanbruch der Wissenschaft?
O ja! Wohl hatten sie alles vernommen. Und sie hatten still
dazu gelächelt, gütig, nachsichtig, ein klein wenig traurig, ein klein
wenig schalkhaft. Denn — sie wussten. Wussten? Durch eine Gnade
Gottes — oder der Natur, wenn ihr wollt, aber dennoch Gottes —
waren sie sehend geworden. Es war ja ganz natürlich, dass die, welche
nicht gesehen hatten, leugnen würden, aber die Offenbarung war nichts-
destoweniger Wahrheit. Das Gebet nicht wahr — nicht erhört —
nicht gewährt? Komm, wir wollen dir eine Geschichte erzählen.
Höre! Dies ist mir widerfahren. Mir, thatsächlich mir! Keine Ein-
bildung — ich weiss es und diese Freundin hier kann dir dasselbe
sagen, und jene dort ist wunderbar von Gott gesegnet und getröstet
worden im Gebet. Traute alte Märchen des Glaubens, wie zauberhaft
sie uns anzogen, wie wahr sie klangen. Wie wenn wir den Gespenster-
geschichten eines Freundes lauschten, dessen Wort nicht angezweifelt
werden durfte — und wenn nun doch angenommen sie wären
wirklich wahr? Könnten sie wahr sein?
Intellectuelle Kritik war hier nicht anwendbar, ungehörig und
unanwendbar, wie auf die Offenbarungen der Schönheit, die für ihn
seit langem die einzigen Zeugnisse des Göttlichen gewesen waren.
War es schliesslich doch nur ein Unterschied des Auges, der An-
schauung? Sollte er aufhören an das Mysterium der Schönheit zu
glauben, weil es vor andern Augen verborgen war? Vielleicht erfassten
sie Gott in ähnlicher Weise, wie er die Schönheit erfasste!
Er, der Schönheit-Gläubige, sie die Gottes-Gläubige — so hatte
er sich und seine Begleiterin genannt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 804, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0804.html)