Text
»Konnte er an die Schönheit glauben und nicht an Gott?« fragte
sie einfach, als die beiden über die Höhen der Erde ins Weite blickten.
»Nehmen wir denn das als ein Fundamentalprincip in dieser Welt
an?« erwiderte er, »dass der Glaube an die Schönheit nothwendiger-
weise den Glauben an unsere schönen Freunde in sich schliesst?
Gehen schöne Gesichtszüge immer mit schönen Thaten Hand in
Hand?« »Und dann,« fuhr er lächelnd fort, »ist das wohl auch nicht
ganz die richtige Auffassung und Beweisführung für einen echten
Christen, von der Schönheit auf die Güte zu schliessen, von der Schön-
heit der Welt auf die Güte Gottes? Gibt es nicht viel Güte, die von
der Schönheit geradezu peinlich weit entfernt ist? Und ist nicht der
gute Christ nur umso wertvoller, wenn er ein klein wenig unscheinbar
oder hausbacken ist?«
»Der Christ,« entgegnete sie ernst, »hat es oft nicht umgehen
können, die Schönheit zu bekämpfen, und mag es künftig wieder thun
müssen; aber der Christ, der nach Wissen trachtet — denn Du be-
greifst doch selbstverständlich, dass es Christen gibt, die nach Erkenntnis
trachten, die wohl wissen, warum sie Christen sind; und andere, die
aus Gehorsam Christen sind, standhaft und unterwürfig einem Gesetz,
das sie nicht kennen — der nach Erkenntnis trachtende Christ wird
stets mit wehem Herzen gegen die Schönheit streiten.«
»Du weisst,« fuhr sie fort, »jedes geistige Gut birgt seine Gefahr.
Sogar die Vortrefflichkeit selber bildet Laster aus, Herbheit und Eng-
herzigkeit, wie die Schönheit zur Weiche und Schlaffheit der Seele
führt. Schönheit ist nur einer von Gottes Engeln, und sie zu ehren,
als sei sie Gott selbst, heisst sie verwirren und entstellen durch falsche
Anbetung. Aber sie ist ein Engel und als solcher ein Bote Gottes,
der vielleicht auf seinem Wege seine Botschaft vergessen hat, geblendet
vom Weihrauch aus irdischen Altären.
Das ist die Gefahr eurer neuzeitlichen Schönheits-Religion — ihr
betet den Boten an und vergesst die Botschaft«.
»Welche Botschaft hat denn die Schönheit anders als ihre eigene
Schönheit zu verkündigen?« fragte der Mann.
»Die Botschaft der Schönheit ist die Güte Gottes,« antwortete sie.
Nach einer Pause sagte er: »Du hast ungewöhnliche Dinge aus-
gesprochen, aber Du hast sie kaum bewiesen. Du hast gesagt, die
Welt sei schön, darum ist Gott gut. Nun denn, fassen wir einmal
Deinen Standpunkt in einen bestimmten Gradmesser ein und sagen
wir: die Welt ist so schön, wie Gott gut ist. Dann fragt sich: wie
schön ist die Welt — und wie hässlich! Hinter der grünen Maske
des Frühlings lauert ein heimliches Scheusal mit fletschenden Zähnen;
die Schönheit ist sein Köder; und dieses liebliche Grün, was ist es
anders als das gleissende Grün eines Riesengrabes, die Pestgrube,
in die die Menschheit Jahrtausende um Jahrtausende hineinstürzt? Die
grüne Welt! Ja! Das wunderschöne grüne Grab der Menschheit, in
Ordnung gehalten vom Todtengräber Sonne und niedlich ausgestattet mit
all den grossen und kleinen Gänseblümchen, genannt Himmelssterne.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 805, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0805.html)