Text
Ich sitze still in meiner dunklen Laube
Am Tisch von Eichenholz geschnitzt, die Ranken
Von wildem Wein umschmeicheln luft’ge Äste,
Aus denen sich der Bau zusammenfügt.
Die Luft ist mild, und still bewegen sich die Blätter,
Sie lächeln über Sommerwindes Spiel,
Dann träumt es wieder — tief und ruhig,
Gefällig eingewiegt schläft die Natur.
Mein Haupt sinkt auf die müden Arme nieder,
Das Auge blickt umflort auf einen Gegenstand,
Der zitternd in der Hand mir wilde Gluten
Und sanfte Rührungen erweckt: Dein Brief.
So lern’ ich Deine Züge, so umfass’ ich
Dein Wesen segnend, wie ein müder Pilger
Vor einem Bildstock schluchzend niedersinkt.
Dein Brief! — Ich les’ ihn nicht, ich seh’ ihn nur
Und lese tief in Deinem tiefen Herzen. — —
Genug der Träumerei. Das Leben fordert mich,
Es fordert, dass ich thätig nun Dich preise,
Dass nicht in rührend sehnenden Gedanken,
Nein, in der That Dein Segen sich erweise.
1889. Georg Hirschfeld.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 835, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0835.html)