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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 838

Text

wir uns über diesem trüben Leben des Scheines ein anderes, besseres,
froheres Leben schaffen: das ist die Aufgabe der Kunst. Aber woher
soll der Künstler die Elemente für dies neuzuschaffende, höhere Leben
nehmen? Er muss sie doch wieder jenem untergeordneteren Leben
entnehmen, das wir die Wirklichkeit nennen. Denn den Künstlern
wird ein Werk doch nur dann lebendig vor der Seele stehen, wenn
es sich unter den gewohnten Daseinsformen darstellt.

Darum ist es die Mission der Kunst, sagt Wyzewa — und
wiederholt damit nur, was Wagner und Mallarmé ihren Jüngern so
oft gepredigt — in vollem Bewusstsein und mittelst äusserer Zeichen
das gesammte Leben des Weltalls nachzuschaffen, d. h. die Seele, in
der das mannigfache Schauspiel des Lebens, das wir Universum
nennen, sich entrollt.

Nun besteht aber unsere Seele aus zahlreichen Elementen, denen
drei verschiedene Formen inneren Lebens entspringen: der Eindruck,
die Erkenntnis und die Empfindung, auf welchen drei Lebensformen
die verschiedenen Künste beruhen. Die sinnlichen Eindrücke dienen
den bildenden Künsten — der Malerei und der Sculptur — die
Erkenntnis dem Schriftthum, die Empfindung der Musik zur Grundlage.
Da nun jede dieser Künste nur einen Theil, eine Form des inneren
Lebens der Seele zum Ausdruck bringt, so ist jede an sich unvollständig
und mangelhaft. Die ideale Kunst wird darum diejenige sein, welche
das gesammte Leben und nicht nur das der Sinne, des Geistes oder
des Herzens wiedergibt. Jene alles umfassende ideale Kunst wird die
höchste Errungenschaft der neuen Zeit sein und wird den menschlichen
Geist bis zu jenem Zustand hellseherischen Träumens erheben, von
dem Richard Wagner in seinem so bedeutenden Brief an Dillot im
Jahre 1861 schrieb.

Nun denn, jene neue, herrliche Kunst, die Richard Wagner nur
durch eine innige Vermählung der verschiedenen Kunstformen erreichbar
schien und die er durch das Musik-Drama zu verwirklichen strebte,
ist das Ziel, worauf alle Neuerungen der französischen Dichter unseres
Jahrhunderts gerichtet sind. Deshalb trachteten zuerst die Romantiker
mit Victor Hugo an der Spitze, dann Baudelaire, dann die Parnassiens
und endlich Verlaine und Mallarmé sammt ihren Jüngern, mögen sie
nur gewissermassen unbewusst oder mit einem klaren Vorsatz jenem
Ideal einer allumfassenden, schöpferischen Kunst zugeschritten sein,
demselben durch eine weise Bereicherung der Ausdrucksmittel näher
zu kommen. Jenen Worten, die durch mehr als zwei Jahrhunderte,
d. h. von Malherbe bis zur romantischen Periode, keine andere als
eine streng abstracte Bedeutung gehabt hatten und deshalb nur die
Welt der Erkenntnisse auszudrücken vermochten, versuchten mehrere
Dichter zu Anfang des Jahrhunderts, dann Flaubert und einige andere
Prosatoren ihre emotionelle und sinnliche Kraft wiederzugeben, die
sie beim Entstehen der Sprache zweifellos besessen. So hörten die
Worte auf, todte, abstracte Zeichen zu sein und wurden wieder
lebendig nach dem schönen Satze des Victor Hugo: »Car le mot,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 838, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0838.html)