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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 839

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STÉPHANE MALLARMÉ. 839

qu’on le sache, est un être vivant.« Sie drückten nicht mehr bloss
Ideen aus, sondern auch sinnliche Eindrücke wie die bildenden Künste,
Empfindungen wie die Musik. So konnte die Literatur und vor allem
die Poesie mit dem ihr wesentlichen, musikalischen Element, das sie
zu einer Art von Übergangskunst oder besser zu einer allumfassenden
Kunst macht, versuchen, sämmtlichen Kräften, die in uns leben, Ausdruck
zu verleihen.

Die Ästhetik Mallarmés setzt sich aus zwei wesentlichen Elementen
zusammen: dem Symbolismus und der Suggestion, zwei Elemente,
die manches Verwandte haben und oft verwechselt werden. Bekanntlich
ist ein Symbol die Anwendung eines materiellen Bildes, um etwas
der geistigen Welt Angehörendes darzustellen. Alle Religionen haben
ihre Symbole und die »Hohe Magie«, welche einst nahezu die ganze
Welt beherrschte und heute missachtet und verlacht wird, obwohl sie
oftmals so philosophisch tief und gewaltig ist, besitzt deren herrliche.

Man muss jedoch zwei wesentliche Arten von Symbolismus unter-
scheiden. Der eine ist trivial und entspringt dem angeborenen Bedürfnis
des Volkes, sich das, was der spiritualen Welt angehört in greifbaren
Bildern vorzustellen, um es seinem Verständnis näher zu bringen. Das
ist jener niedere Symbolismus, der den Gedanken herabzieht und seinen
Flug lahmt; er ist es, der die Völker zum Fetischdienst treibt und den
Bilderstürmern das Schwert in die Faust drückt; er ist es, der den
Dutzendschreibern die banalen Gleichnisse und herkömmlichen Metaphern
eingibt. Dann aber gibt es einen hohen Symbolismus, der den Menschen
mittelst weise erwählter Bilder aus der materiellen Welt in die des
Geistes geleitet, ein strenger, priesterlicher Symbolismus, der oftmals,
wenn er das endgiltige Sinnbild gefunden, sich nicht bei überflüssigen
Erläuterungen aufhält, sondern auf dessen mächtige suggestive Wirkung
bauend, es dem Geiste der Leser überlässt, in sein Geheimnis einzu-
dringen, das Dunkel zu durchleuchten und den zeugenden Gedanken
ans Licht zu fördern; ein Symbolismus, der zugleich eine Synthese
und eine Entscheidung ist, indem er, mit Übergehung aller gewöhn-
lichen und unnützen Menschen und Geschehnisse des Alltags, eine
synthetische Erscheinung erwählt, in der ein ewiger unvergänglicher
Gedanke sich verkörpert oder ein menschliches Wesen, das in sich
alle eigentlichen Züge einer ganzen Gruppe von Menschen vereinigt
und so gleichsam einen Typus repräsentiert; ein Symbolismus endlich,
der die unsterbliche Tragödie der menschlichen Seele erzählt und hinter
den wandelnden Ereignissen die ewigen Wahrheiten entdeckt. Von
dieser zweiten Art ist der Symbolismus des Mallarmé.

Die Poesie, die schon von Natur synthetisch, aristokratisch und
wählerisch ist, eignet sich nicht bloss vortrefflich für den Symbolismus,
sie wird dadurch sogar von gewaltiger Grösse. Der Roman dagegen,
in dem heute alle Arten der Prosadichtung aufgehen, soll analytisch
und beschreibend sein und ins einzelne gehen, er soll das moderne
Leben in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen rückhaltslos und
schrankenlos studieren und darf sich nur ab und zu erlauben synthetisch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 839, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0839.html)