Text
zu sein. In dieser Weise würden Poesie- und Prosadichtung einander
glücklich ergänzen, indem die eine den concreten, die andere den
abstracten Theil des Lebens und seinen geistigen Inhalt darstellen,
die eine die positivistischen, die andere die idealistischen Tendenzen
verkörpern würde.
Aber jedesfalls sind jene Werke von unvergänglicherem Reiz, die,
statt die Gedanken und Gefühle des Autors deutlich auszudrücken, sich
damit begnügen, dieselben bloss anzudeuten, sie gleichsam mit einem
Nebelschleier zu umhüllen und es dem Leser überlassen, sie selber
ergänzend nachzuschaffen.
Offenbar schwebt das dem Mallarmé vor, wenn er eine symbo-
listische Form für seine Dichtungen wählt, die freilich allzu dunkel
im Ausdruck metaphysischer Begriffe ist und allzu grossen Nachdruck
auf das musikalische Element in der Poesie legt, die überdies manch-
mal in Spitzfindigkeiten und Verworrenheiten geräth, die nur einer
ganz kleinen Zahl erlesener Geister zugänglich sind. Doch lässt sich
dieses Übermass vielleicht durch das Wort des Joubert, eines tiefen
Denkers des vorigen Jahrhunderts, rechtfertigen: »Souvent on ne peut
éviter de passer par le subtil, pour s’élever et arriver au sublime,
comme pour monter aux cieux il faut passer par les nuées —.«
Die Reihe der Veröffentlichungen begann für Mallarmé im Jahre
1866, wo bei Lemerre der erste Band des »Parnasse Contemporain«
erschien, eine bedeutende und charakteristische Sammlung von neuen
Dichtungen aus den Reihen der Parnassiens. Darin veröffentlichte
Mallarmé zehn Gedichte, welche lebhaftes Aufsehen in literarischen
Kreisen erregten und seine erste Weise kennzeichnen. Sie waren
tadellos in der Form und — was ihr grosses Übergewicht über die
sonstigen Dichtungen der Parnassiens ausmachte — von wohlthuendem
Einklang zwischen Form und Inhalt, so dass die kunstvolle Musik
der Worte und Rhythmen genau den Gedanken und Empfindungen
entsprach, die der Dichter auszudrücken gedachte.
Von jenen ersten Talentproben des Mallarmé schrieb Théophile
Gautier in seinem: »Tableau de la poésie française depuis 1830«:
»L’Extravagance un peu voulue en était traversée par de brillants
éclairs.«
Vermuthlich hat der Dichter der »Emaux et Camées«, alt und
abgemüdet, wie er war, Mallarmés Bedeutung als Neuerer übersehen,
die ihn in jüngeren Jahren sicherlich begeistert hätte; aber anderseits
glaube ich, dass die lakonische Bezeichnung: »Extravagance un peu
voulue« keinen Vorwurf bedeutet im Munde desjenigen, der zur Ver-
theidigung Baudelaires die folgenden Worte schrieb, die sich ebenso
gut auf Mallarmé anwenden lassen: »Man hat Baudelaire oftmals der
absichtlichen Bizarrerie, der gesuchten Originalität um jeden Preis,
und namentlich der Manieriertheit angeklagt. Es gebürt sich bei
diesem Punkte länger zu verweilen. Es gibt Leute, die von Natur
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 840, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0840.html)