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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 842

Text

842 PICA.

Alle Feinheiten, alles Raffinement seiner erlesenen Kunst hat
Stéphane Mallarmé in der Ekloge niedergelegt, die er »L’Après-midi
d’un Faune« benannt hat, und die man zweifellos als ein poetisches
Juwel bezeichnen muss. Darin wird das, was man sonst den Dichtungen
der zweiten Periode zum Vorwurf macht: die Unklarheit und Doppel-
sinnigkeit und die Subtilität der Empfindung, zu einem Reiz mehr.
Übrigens ist sie einheitlicher und weniger sprunghaft als seine sonstigen
Arbeiten.

Es ist der Monolog eines lüsternen Fauns, der sich an einem
heissen Sommernachmittag an zwei entzückende Nymphen erinnert,
die er beim Baden überrascht und die vor ihm entflohen. Sie waren
so flüchtig, dass er sich fragt, ob jene Frauen nicht etwa bloss die
Verkörperung eines Wunsches seiner Sinne waren; und während er
die Erinnerung an sie heraufbeschwört, wird es ihm plötzlich bewusst,
dass alle Visionen nur Wünsche und Träume der Seele sind. Mit den
Klängen seiner Hirtenflöte versucht er nun, das wollüstige Bild der
beiden Flüchtigen zurück zu zaubern und glaubt sie zu umfassen, bis
sie plötzlich aufs neue seiner Umarmung entgleiten; und von der
Hitze überwältigt versinkt der Faun in Schlaf mit den Worten:
»Couple, adieu; je vais voir l’ombre, que tu devins.«

In diesem entzückenden Gedicht, worin der Dichter abermals im
prächtigen Gewand der Symbole die erlesenen Freuden schildert,
welche dem Menschen aus idealen Schöpfungen seiner Seele zufliessen
und den unsterblichen Conflict zwischen dem Traume und der nüchternen
Wirklichkeit darstellt, ist alles weise erwogen; die leuchtenden und
suggestiven Bilder wachsen zu greifbarer Lebendigkeit, wie die wohl-
lüstigen Erinnerungen in der Seele des lüsternen Fauns anschwellen
und er die heraufbeschworenen Frauengestalten leibhaftig zu umfassen
wähnt. Die süsse, schmelzende, buhlerische Musik der Verse wird
gellend, wo die Sinnenglut des bockfüssigen Schwärmers wild aufschäumt.
Und endlich sei noch die in unsern Tagen so seltene Farbenfülle hervor-
gehoben, jene weise Kunst der Steigerungen, der Töne, der Lichter
und Schatten, und vor allem die wahrhaft classische Frische und An-
muth, die an Theokrit, Virgil, Ovid erinnert und an jenen neuen
Griechen, der sich André Chénier nannte.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts kamen die kleinen, dichterisch
concentrierten Werke, vers en prose auf. Diese Form entspricht vor-
trefflich dem immer schärfer werdenden Verlangen nach Knappheit,
welches die literarische Generation von heute kennzeichnet. Doch setzen
sie in dem, der sie üben will, ungewöhnliche stilistische Vollendung
und ein synthetisches Denken voraus; denn so ein Gedicht in Prosa
soll zusammenfassen, was sonst ein Paar Seiten an Analyse und Be-
schreibung füllt; in knapper Wirksamkeit soll da ein ungemeiner und
doch typischer Seelenzustand ausgedrückt werden; seltene Adjective,
in weiser Auswahl gefunden, müssen da so genau an ihrer Stelle
stehen, dass man sie nicht vertauschen könnte, ohne den Sinn des
Ganzen zu zerstören und ein wohlerwogener, musikalischer Rhythmus

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 842, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0842.html)