Text
Gott segne dich! Unendlich, unendlich segne er dich, mein einziges,
kleines Kind. Mein Herz, das ich hab hingeben müssen!« Von diesem
Gemurmel erwachte einst Harley. Er tastete um sich und griff dann
nach ihr. Er wusste ja nicht, dass eine Mutter betete. — — —
Nichts wusste er, als dass er sie lieb, hatte — die Margarete,
die neben ihm lag — zu lieb, um sich seine glückliche, arbeitsame
Ruhe zu bewahren, seine Sauberkeit des Lebens, Accuratesse und
Respectabilität. Darum sagte er: »farewell, my girl!« —
Musste es nicht sein? Immer muss es so auf dieser Erde sein,
was die kleinen, armen, lieben Weiber anbelangt, die uns so theuer
werden. Träumen, hinwanken, zerfliessen? Wo bleibt dann das Dasein,
das reale, starke, volle Leben, mit seinem Beruf und festem Wohnsitz,
und Einkommen und Vaterland, und Würde und Sitz im Parlament?
Margarete war nicht aufdringlich. O nein! Während sie die
Koffer mit ihm packte, stürzte es über ihr Gesicht, brennend, ver-
heerend, aber in ganz stummen Wellen. Einmal nur flog sie ihm an
die Brust, taumelnd, wie der Nachtfalter, der sich mitten in die
Flamme stürzt. Wie der Nachtfalter mit matten Flügeln hieng sie da,
todesbereit.
Aber Harley sagte sanft:
»Margarete, mus’ not! Be a little woman, Margarete! Do’nt
be a child. Be my dear, dear little girl!« — — Dear little girl! Wie
die Lehrerin in der Schule! dachte Margarete. Stumpf, mit todter
Empfindung dachte sie’s. Und sie brachte ihren Harley auf die Bahn.
Dann gieng der grelle Pfiff durch die erleuchtete Halle, der die
Abschiedsworte zerschneidet, wie mit einem Sensenblitz.
»Be my dear, dear little girl!« Sie stammelte die Worte, als sie
aus der Halle taumelte, stammelte sie den ganzen Weg entlang.
Hilflos, wie er sie gemacht hatte, ihr fremder Harley, sterbensbereit,
hingestreckt von der Liebe zu ihm, und ihrem fernen, fernen kleinen
Kinde, warf sie sich hinab — die Brücke hinab ins Tiefe. Be a little
woman, Margarete! Be my dear, dear little girl! — — — — — —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 22, S. 857, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-22_n0857.html)