Text
Von MAURICE MAETERLINCK.
Vorbemerkung der Redaction: Dieser Essay erscheint hier in
deutscher Sprache, autorisiert, zum erstenmale. Auch in französischer und
englischer Sprache erscheint er erst heute, am 15. October, an welchem Tage
das neue Buch Maeterlincks: »La sagesse et la destinée« in Paris, London
und New-York zur Ausgabe gelangt. Er wurde aus Maeterlincks Manuscript
übersetzt.
Sobald das Bewusstsein erwacht und in einem Wesen zu leben
beginnt, fängt sein Schicksal an. Es handelt sich hier nicht um das
verarmte und passive Bewusstsein der meisten Seelen, sondern um das
thätige Bewusstsein, das die Ereignisse annimmt, welcher Art sie auch
sein mögen, wie eine Königin, selbst wenn man sie ins Gefängnis
geworfen hat, eine Gabe anzunehmen weiss. Wenn einem nichts
zustösst, kann das Bewusstsein, indem es auf gewisse Weise die Ab-
wesenheit jedes Ereignisses feststellt, schon ein grosses Ereignis schaffen.
Aber vielleicht gibt es keinen Menschen, dem nicht mehr Dinge be-
gegnen, als er zur Ernährung des begierigsten, unermüdlichsten Be-
wusstseins bedarf. Ich habe in diesem Augenblicke die Lebensbeschreibung
einer jener mächtigen und leidenschaftlichen Seelen vor mir, an der
alle Zufälle, die das Glück oder Unglück der Menschen ausmachen,
vorübergegangen zu sein scheinen, ohne das Haupt umzuwenden. Es
handelt sich um das seltsamste, unbestreitbar genialste Weib der ersten
Hälfte dieses Jahrhunderts, Emily Bronté*) Sie hat uns nur ein
Buch gelassen, einen Roman, betitelt: »Wuthering Heights«. Ein
bizarrer Titel, den man vielleicht mit »Die Sturmhöhe« wiedergeben
könnte. Emily war die Tochter eines englischen Clergyman, des Reverend
Patrick Bronté, des nichtigsten, leblosesten, anspruchvollsten und selbst-
süchtigsten Wesens, das man sich denken kann. Zwei Dinge schienen
ihm wichtig im Leben, die Reinheit seines griechischen Profils und
*) Emily Bronté (pseud. Ellis Bell) wurde 1819 als zweite Tochter
des Predigers Bronté geboren. Ihre ältere Schwester war die bekannte Roman-
schriftstellerin und Schülerin Thackerays Charlotte Bronté, die zuerst unter dem
Pseudonym Currer Bell schrieb und 1846 mit Emily und ihrer jüngsten Schwester
Anna (Acton Bell) gemeinschaftlich »Gedichte« herausgab. Der erste, 1847
gedruckte Roman Charlottes »Jane Eyre«, der ihre Jugendjahre wiederspiegelte,
ist in der deutschen Bühnenbearbeitung von Charlotte Birch-Pfeiffer als »Waise
von Lowood« auch heute noch auf dem Continent wohl bekannt. Nachdem Emily
1848 und Anna 1849 gestorben waren, gab sie deren literarischen Nachlass,
dessen Hauptbestandtheil die Romane »Wuthering Heights« und »Agnes Gray«
bildeten, 1850 heraus. Ein englischer Neudruck von 1896 liegt vor.
Der Übersetzer.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 875, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0875.html)