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die Sicherheit seiner Verdauung. Was die arme Mutter Emilys angeht,
so schien sie ganz und gar in der Bewunderung dieses Profils und im
Respect vor diesen ehelichen Verdauungen zu leben. Wozu übrigens
ihr Dasein hier erwähnen, da sie zwei Jahre nach Emilys Geburt
starb? Fügen wir nichtsdestoweniger hinzu — und wäre dies nur, um
wieder einmal zu erhärten, dass im Durchschnittsleben das Weib fast
immer dem Manne überlegen ist, den es hat nehmen müssen — fügen
wir hinzu, dass lange nach dem Tode des unterwürfigen Weibes des
eitlen und stumpfsinnigen Clergyman sich ein Päckchen Briefe fand,
worin sie, die sich immer ausgeschwiegen, die Gleichgiltigkeit, Abge-
schmacktheit und Selbstsucht ihres Gatten sehr richtig beurtheilte.
Zwar braucht man, um einen Fehler bei andern wahrzunehmen, davon
nicht ausgenommen zu sein, während man, um eine Tugend zu ent-
decken, vielleicht deren Keim besitzen muss. — Derart waren Emilys
Eltern. Um sie herum sahen vier Schwestern und ein Bruder dieselben
einförmigen Stunden schwerfällig verfliessen. Die ganze Familie lebte
und das ganze Dasein Emilys vergieng in dem düsteren, trostlosen,
einsamen, elenden und unfruchtbaren kleinen Flecken Howorth mitten
in der Haide von Yorkshire.
Es gab nie eine verlassenere, trübseligere, eintönigere Kindheit
und Jugend als die Emilys und ihrer vier Schwestern. Nicht einer
jener kleinen, glücklichen oder ein wenig unerwarteten Zufälle, die von
den Jahren dann vergrössert und verschönt werden und auf dem
Grunde der Seele den einzigen unerschöpflichen Schatz der lächelnden
Erinnerung des Lebens bilden. Vom ersten Tage bis zum letzten —
Aufstehen, Sorge um den Haushalt, Unterricht, Arbeiten an der Seite
einer alten Tante, Mahlzeiten, Spaziergänge, Hand in Hand und fast
immer wortlos, welche die ernsten kleinen Mädchen über das blühende
oder schneebedeckte Haideland unternahmen. Zu Hause — die absolute
Gleichgiltigkeit eines Vaters, der sich fast nie sehen liess, seine Mahlzeiten
auf seinem Zimmer einnahm und nur des Abends herunterkam, um in dem
gemeinsamen Saale des Pfarrhauses die überwältigenden Debatten des
englischen Parlaments mit lauter Stimme vorzulesen. Draussen — das
Schweigen des Kirchhofs, der das Haus umgab, die grosse Öde ohne
Bäume und die Hügel, die der furchtbare Nordwind vom Frühjahr bis
zum Winter durchtobte.
Die Zufälle des Lebens — denn es gibt kein Leben, in dem
die Zufälle nicht etliche Anstrengungen machen — entrissen Emily
drei oder viermal dieser Einöde, die sie zu lieben und — wie es
allen geht, die zu lange an einem Orte weilen — als den einzigen
Fleck anzusehen gelernt hatte, wo der Himmel, die Erde, die Pflanzen
wirklich und bewundernswert waren. Aber nach Verlauf einiger Wochen
ward sie matt, ihre schönen glühenden Augen erloschen und die eine
oder andre ihrer Schwestern musste sie schleunigst nach dem ein-
samen Pfarrhause zurückführen.
Im Jahre 1843 — sie war damals 25 Jahre alt — kehrte sie
dorthin wieder zurück, um es nur noch im Tode zu verlassen. Kein
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 876, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0876.html)