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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 877

Text

EMILY BRONTÉ. 877

Ereignis, kein Lächeln, keine Hoffnung auf Liebe vor dieser endgiltigen
Heimkehr. Nicht einmal die Erinnerung an einen jener Unglücksfälle,
eine jener Täuschungen, die so vielen zu schwachen, oder angesichts
des Lebens zu wenig anspruchsvollen Wesen die Einbildung gestatten,
dass die passive Treue gegen das, was sich selbst zerstört hat, ein
Act der Tugend ist, dass die Unthätigkeit in Thränen eine Entschuldigung
der Unthätigkeit ist, und dass man alles gethan hat, was sich thun
liess, wenn man aus seinem Leiden jede Traurigkeit und jede Ent-
sagung geschöpft hat, die sich darin finden liess.

Hier — gab es gar nichts, was die Erinnerung oder Entsagung
an die jungfräulichen und glatten Wände dieser Seele ohne Ver-
gangenheit heften konnte. Nichts vor dieser letzten Zeit, nichts nachher,
ausser armen und trostlosen Krankenpflegerdiensten bei einem Bruder,
dessen Dasein durch Trägheit und eine grosse, unglückliche Leidenschaft
gebrochen ward, einem Bruder, der nahezu verrückt, unrettbar trunk-
süchtig und Opiumesser war. Dann, als sie ihr 29. Jahr fast vollendet
hatte, an einem December-Nachmittag im kalkgetünchten Wohnzimmer
des Pfarrhauses, während sie am Kamin sass und ihre langen, schwarzen
Haare kämmte, fiel der Kamm ins Feuer; sie hatte nicht die Kraft,
ihn aufzuheben, und der Tod kam, schweigsamer noch als ihr Leben,
und entriss sie sanft den blassen Umschlingungen ihrer zwei Schwestern,
die das Los ihr noch gelassen hatte.

»Ich ersehe für dich auf den grossen Knien des Schicksals
weder ein Zeichen der Liebe, noch einen Funken Ruhm, noch eine
lächelnde Stunde!« ruft in schöner Wallung der Trauer Miss Mary
Robinson, die uns dieses Dasein erzählt. In der That gibt es, von
aussen gesehen, kein trüberes, farbloseres, leereres, eisigeres Dasein als
das der Emily Bronté. Aber von welcher Seite soll man das Leben
ansehen, um seine Wahrheit zu entdecken, um es zu beurtheilen, zu
billigen und zu lieben? Wenn wir einen Augenblick die Blicke von dem
kleinen, in der Steppe verlorenen Pfarrhause ablenken, um sie der Seele
unserer Heldin zuzuwenden, so sehen wir ein andres Schauspiel. Es ist
selten, dass man derart das Leben einer Seele in einem Körper ohne
Erlebnisse belauschen kann, aber es ist minder selten, dass man denkt,
eine Seele habe ein persönliches und von den Einflüssen der Woche
oder des Jahres nahezu unabhängiges Leben. Es liegt in »Wuthering
Heights«, als welches das Gemälde der Leidenschaften, Wünsche,
Verwirklichungen, Gedankengänge und Ideale dieser Seele, kurz, ihre
wahre Geschichte ist, mehr Energie, mehr Leidenschaft, Eifer, Liebe
und Erlebnis, als nöthig wäre, um nacheinander zwanzig heroische,
zwanzig glückliche oder unglückliche Schicksale zu beleben und zu be-
friedigen. Nie machte ein Ereignis an der Schwelle ihrer Wohnung
halt — und doch gibt es kein Ereignis, auf das sie ein Recht hatte, das
nicht in ihrem Herzen mit einer Kraft, Schönheit, Bestimmtheit und
Weite ohne gleichen stattgefunden hätte. Es begegnet ihr scheinbar
nichts — und doch begegnet ihr alles viel persönlicher und wahrer als
der Mehrzahl der Wesen, weil alles, was um sie entsteht, alles, was

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 877, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0877.html)