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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 878

Text

878 MAETERLINCK.

sie wahrnimmt und auffasst, sich bei ihr in Gedanken, in Gefühle, in
nachsichtige Liebe, in Anbetung und Bewunderung des Lebens ver-
wandelt. Was liegt daran, ob ein Ereignis auf unser Dach oder das des
Nachbars fällt? Das Wasser, das eine Wolke spendet, gehört dem, der
es auffängt, und das Glück, die Schönheit, die heilsame Ungeduld,
oder der Frieden, der in einer Geberde des Zufalls liegt, gehört nur
dem, der gelernt hat nachzudenken. Sie kannte keine Liebe, sie ver-
nahm nicht ein einzigesmal die wundersamen Schritte des Geliebten auf
der Strasse, und doch hat sie, die als Jungfrau von 29 Jahren
starb, die Liebe gekannt, von der Liebe gesprochen und ihre un-
glaublichsten Geheimnisse derart durchschaut, dass jemand, der sehr
geliebt hat, sich zuweilen fragt, welchen Namen er noch seiner Leiden-
schaft geben soll, wenn er von ihr die Worte, den Schwung, die Ge-
heimnisse einer Liebe vernimmt, neben der alles andre zufällig und
schwach erscheint. Wo hat sie, wenn nicht in ihrem Herzen, jene un-
vergleichlichen Worte der Liebenden vernommen, die sie zu ihrer Amme
spricht, von Ihm, den alle rings um sie verfolgen und verabscheuen und
den sie allein anbetet? »Mein grosses Elend auf dieser Welt ist sein
Elend gewesen. Alles und jedes habe ich von Anfang an mit- und
nachempfunden. Mein Denken, wenn ich lebe, ist er selbst. Wenn alles
übrige vergienge und er allein bliebe, würde ich fortfahren zu leben;
und wenn alles übrige bliebe und er zu nichte würde, wäre die Welt
für mich nur noch eine ungeheure Fremde und ich hätte keinen
Theil mehr daran. Meine Liebe für den andern, von dem du sprichst,
ist wie das Laub im Walde; die Zeit wird sie verändern, wie der
Winter die Bäume verändert; aber meine Liebe für ihn gleicht den
ewigen, unterirdischen Felsen. Sie sind die Quelle geringer sichtbarer
Befriedigung, aber sie sind nothwendig. Ich bin Er. Er ist stets in
meinem Denken, nicht wie ein Vergnügen, nicht mehr, als ich mir
selber immer ein Vergnügen bin; ich liebe ihn nicht, weil er mir schön
erscheint, sondern weil er mehr Ich ist als mein ganzes Ich; und
aus welchem Stoffe auch unsere Seelen gemacht sein mögen, seine
und meine Seele sind nur eine und dieselbe Seele «

Sie geht um die äusseren Thatsachen der Liebe mit einer Un-
schuld herum, die uns lächeln machen kann; aber woher hat sie diese
inneren Thatsachen, die all das Tiefste, Unlogischeste, Unerwarteteste,
Unwahrscheinlichste und ewig Wahrste berühren, was die Leidenschaft
besitzt? Es scheint, man hätte dreissig Jahre lang in den glühendsten
Fesseln der glühendsten Küsse leben müssen, um das zu wissen, was
sie wusste, um uns mit dieser Gewissheit, mit dieser untrüglichen
Genauigkeit den Liebeswahnsinn der beiden vorbestimmten Liebenden
der »Wuthering Heights« zu schildern, mit allen widersprechenden
Bewegungen der Sanftmut, die leiden machen, und der Grausamkeit, die
beglücken möchte, der Glückseligkeit, die den Tod verlangt, und der Trost-
losigkeit, die sich an das Leben klammert, der Abweisung, die verlangt,
und des trunkenen Verlangens nach Abweisung, der hasserfüllten Liebe
und des Hasses, der unter der Schwere der Liebe wankt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 878, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0878.html)