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Und doch wissen wir — denn es ist nichts verborgen in diesem
armen Leben — dass sie keinen Menschen liebte und dass niemand
sie liebte. Es ist also wahr, dass das letzte Wort eines Daseins ein
Wort ist, welches das Schicksal im geheimsten Grunde unseres Herzens
flüstert. Es ist also wahr, dass es ein inneres Leben gibt, so wirklich,
so erprobt, so bis ins kleinste hinein, wie das Leben draussen. Es ist
also wahr, dass man auf einer Stelle leben kann, dass man lieben,
dass man hassen kann, ohne dass man jemanden abzuweisen oder
zu erwarten hätte. Es ist also wahr, dass es die Seele ist, die zu allem
genügt, dass es in einer gewissen Höhe allemal sie ist, die den Aus-
schlag gibt! Es ist also wahr, dass die Umstände nur für den trüb
oder unfruchtbar sind, dessen Bewusstsein noch schläft. Gab sich nicht
alles, was wir auf der Strasse suchen, Liebe, Glück, Schönheit, Erleb-
nisse, in Emilys Herzen ein Stelldichein? Nicht ein Tag brachte ihr
eine jener Freuden, eine jener Wallungen oder ein Lächeln, das die
Augen sehen, die Hände fassen können; und doch hatte sie ein voll-
kommenes Geschick, nichts schlief in ihr, stets war Klarheit, schweig-
sames Leben, Vertrauen, Neugierde, Beseelung und Hoffnung in ihrem
Herzen. Sie war glücklich; es ist nicht erlaubt, daran zu zweifeln.
Wenn sie uns ihre Seele aufthut, kann sie uns dieselbe unvergängliche
Ernte aufweisen, wie die besten der Menschen, die das verschiedenste,
längste, lebhafteste und vollkommenste Glück besassen. Wenn sie nichts
von dem hatte, was in der Liebe, im Schmerz, in der Herzensangst,
in der Leidenschaft, in der Freude vergeht, so hatte sie alles, was
von menschlichen Regungen bleibt, nachdem jene nicht mehr sind.
Welcher von beiden wird wirklich etwas besessen haben, der Blinde,
der ein Feenschloss bewohnt, oder der, welcher nur ein einzigesmal
in diesen Palast gekommen ist, aber dies mit offenen Augen?
»Sein oder Nichtsein.« — Lassen wir uns durch Worte nicht
irre führen. Es ist vollständig möglich, ohne Denken zu existieren,
aber es ist nicht möglich, zu denken, ohne zu leben. Das glückliche
oder unglückliche Wesen eines Ereignisses liegt in der Vorstellung,
die man daraus schöpft, für die Starken in der, die sie selbst daraus
schöpfen, für die Schwachen in der, welche die anderen daraus schöpfen.
Es ist möglich, dass tausend physische Ereignisse dir längs deiner
Strasse bis zum Grabe entgegenkommen, und dass keines davon die
Kraft findet, deren es bedürfte, um sich in ein moralisches Ereignis
zu verwandeln. Dann allein kann der Mensch sich sagen: »Ich habe
vielleicht nicht gelebt!«
Auch können wir sagen, dass das innere Glück unserer Heldin —
wie das eines jeden Wesens — sich ganz genau in seiner Moral
und Weltanschauung wiederspiegelt. Dies ist die Lichtung im Walde
der Zufälle, die man am Ende jedes Lebens messen sollte, um die
Ausdehnung eines Glückes zu schätzen. Und wer könnte noch jene
kleinen Thränen über die Täuschungen, Unruhe und Trübsale des
Alltags vergiessen, die allein schmerzlich sind, da sie, statt zu erfrischen,
den Blick vergrämen; wer könnte sie noch vergiessen auf den Höhen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 879, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0879.html)