Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 880

Text

880 MAETERLINCK.

der Erkenntnis und Befriedigung, zu denen sich die Seele der Emily
Bronté aufschwang? Man begreift danach, dass sie nicht geweint hat
wie die Mehrzahl der Weiber, die ihr Leben lang von kleinen zer-
brochenen Freuden zu kleinen zerbrochenen Freuden taumeln. Eine
zerbrochene Freude drückt nur dann nieder, wenn man sie ohne Sinn
und Verstand mit sich herumträgt, wie ein Holzfäller, der seine todte
Holzlast nie ablegte. Aber das todte Holz ist nicht dazu da, um auf
unseren Schultern herumgetragen zu werden; es ist da, um angezündet
und in leuchtende Flammen verwandelt zu werden. Und wenn man
die Flammen sieht, die in Emilys Seele lodern, denkt man nicht länger
als sie selbst an die Trübsale des todten Holzes. Es gibt kein Unglück
ohne Horizont, es gibt keine Trübsal ohne Heilmittel, — für jeden,
der, obschon leidend und niedergeschlagen wie die andern, bis auf den
Grund der Trübsal und des Unglücks der grossen Geberde der Natur
zu folgen weiss, welches die einzig wirkliche Geberde ist. »Der Weise
kann nie ganz sagen, dass er leide, denn er steht über seinem Leben« —
schrieb ein bewunderungswürdiges Weib, das gelitten hatte — »er
beurtheilt es aus der Vogelschau, und wenn er heute leidet, so hat er
sein Denken dem unvollendeten Theile seiner Seele zugewandt.« Emily
entfesselt unter unseren Augen neben Liebe, Güte und Redlichkeit
auch Bosheit, Hass und Rache von grosser Hartnäckigkeit und voraus-
schauendste Falschheit — und hat es nicht einmal nöthig, zu ver-
geben, denn vergeben heisst, erst zur Hälfte verstehen. Sie betrachtet,
sie lässt zu und sie liebt. Sie liebt und lässt das Gute wie das Böse
zu, denn das Böse ist alles in allem das Gute, das sich täuscht. Sie
lehrt uns — nicht in willkürlichen Moralformeln, sondern auf die Weise,
auf welche uns Jahre und Menschen die Wahrheiten lehren, die
wir aufzunehmen das Zeug haben — die schliessliche Ohnmacht der
Bosheit dem Leben gegenüber, das Zur-Ruhe-Kommen aller Dinge in
der Natur und im Tode, »der nichts ist als der Triumph des Lebens
über eine seiner besonderen Formen«. Sie zeigt uns die Nutzlosigkeit
der gewandtesten, kraftvollsten und genialsten Lüge der schwächsten
und unwissendsten Wahrheit gegenüber, und die Täuschungen des
Hasses, der in die Zukunft, die er zu verwüsten wähnte, unwissentlich
das Glück und die Liebe aussäte. Diese spricht uns vielleicht vom
grossen Gesetze der Erblichkeit, um uns zur Duldsamkeit anzuhalten;
und wenn sie am Ende ihres Werkes auf den Dorfkirchhof geht, um
die ewige Ruhestätte ihrer Helden zu besuchen, ist das Gras auf dem
Grabe des Henkers ebenso grün wie auf dem des Märtyrers, und sie
wundert sich, wie jemand sich einbilden könne, ein böswilliges Hirn-
gespinnst möchte die Ruhe derer stören, die so im Schosse der gleich-
giltigen und friedlichen Erde schlafen.

Ich weiss wohl, dass es sich um ein Genie handelt, aber solche
Wesen zeigen uns nur mit etwas mehr Glanz, was in allen Wesen
stattfinden kann und in allen Wesen stattfindet; wo nicht, ist es nicht
mehr Genie, sondern Übertreibung und Narrheit. Je weiter man kommt,
desto mehr sieht man, dass im Ausserordentlichen durchaus kein Genie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 880, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0880.html)