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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 881

Text

EMILY BRONTÉ. 881

liegt, und dass die wahre Überlegenheit aus Elementen besteht, die
sich alle Tage allen Menschen darbieten. Zudem handelt es sich in
diesem Augenblick nicht um Literatur. Nicht ihre Literatur, sondern
ihr inneres Leben tröstet Emily; denn es kann eine sehr blendende
Literatur geben, ohne dass die geringste moralische Bethätigung vor-
handen ist. Emily hätte schweigen können, hätte nie eine Feder in
die Hand nehmen brauchen, und die Macht, die Lebenskraft, der
Überfluss an Liebe, das innere Lächeln des Wesens, dem man
ansieht, dass es weiss, wohin es geht, die erweiterte Gewissheit der
Seele, die ihren Frieden mit den grossen Ungewissheiten und Jammer-
seligkeiten dieser Welt auf den Höhen zu machen gewusst hat, —
wären dieselben geblieben. Wir hätten nichts davon erfahren — das
ist alles.

Dieses bescheidene Leben lehrt uns mehr als ein Ding. Das
heisst nicht, man sollte es denen zum Beispiel setzen, die Neigung
zur Entsagung haben; sie würden sich darin täuschen. Es scheint
ganz und gar im Warten zu verfliessen; und es hat nicht alle Welt
das Recht zu warten. Emily starb als Jungfrau von neunundzwanzig
Jahren, und man thut unrecht, als Jungfrau zu sterben. Ist nicht die
erste Pflicht jedes Wesens, seinem Geschick alles darzubieten, was man
einem menschlichen Geschick darbieten kann? Und ein unvollendetes
Werk ist besser als ein unvollkommenes Leben Es ist gut, die
eitlen oder unnützen Befriedigungen zu vernachlässigen, aber es ist
nicht weise, fast freiwillig die hauptsächlichsten Gelegenheiten zu
wesentlichem Glücke zu versäumen. Es ist der edlen Seele nicht
untersagt, edle Reue zu nähren. Eine etwas ausgedehnte Ansicht der
Trübsal seines Daseins haben, heisst schon im Schatten die Flügel
versuchen, die uns eines Tages helfen werden, über dieser ganzen
Trübsal zu schweben.

Vielleicht fehlt im Leben Emilys der Schwung. Sie hatte in ihrer
Seele jede Kühnheit, jede Leidenschaft, jede Unabhängigkeit, aber in ihrem
Leben alle Ängstlichkeit, alles Stillschweigen, alle Unentschlossenheit,
alle Beschränkungen, alle Enthaltungen und Vorurtheile, die sie in
ihrem Denken verachtete. Dies ist sehr oft die Geschichte der zu nach-
denklichen Seelen. Es ist sehr schwer, ein Dasein in sich zu beurtheilen,
und namentlich bei Emily Bronté wäre viel zu sagen über die Hingebung,
mit der sie die besten Jahre ihrer Jugend einem unglücklichen, aber
unwürdigen Bruder opferte. Man kann hier nur ganz allgemein reden,
aber wie lang, wie schmal ist doch bei fast allen Wesen der Weg,
der von ihrer Seele zu ihrem Leben führt! Es ist mit unseren Gedanken
von Kühnheit, Gerechtigkeit, Redlichkeit und Liebe wie mit den Eicheln
im Walde; tausend und abertausend werden zerstreut und verfaulen
im Moose, ehe dass ein Baum entsteht. »Sie hatte,« sagte von einem
anderen Weibe die Frau, von der ich eben schon ein Wort citierte,
»sie hatte eine schöne Seele, eine schöne Intelligenz, ein empfindendes
Herz, aber alles dieses trat erst ins Leben, nachdem es durch einen
engen Charakter hindurchgegangen war.« Ich bemerke fast immer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 881, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0881.html)