Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 882

Text

MAETERLINCK.

denselben Mangel an Hellsichtigkeit und vor allem dasselbe Fehlen
der Rückkehr auf sich selbst. Wenn ein Wesen uns sein Leben darthun
will, fängt es damit an, uns seine Art, zu sehen, zu begreifen, zu
empfinden, mitzutheilen; man ersieht daraus eine edle Natur der Seele.
Dann zählt es uns, in dem Masse, wie man mit ihm in sein Dasein ein-
dringt, seine Thaten, seine Schmerzen und Freuden auf, — und in alledem
ist keine Spur mehr von der Seele, die man, zwischen Grundsätzen und
Vorstellungen hindurch, einen Augenblick erschaut hatte. Sobald es
ans Handeln geht, kommen die Instincte dazwischen, macht sich
der Charakter geltend, und die Seele, das ist der höhere Theil eines
Wesens, scheint uns zu nichts geworden; wie eine Prinzessin lieber
in bettelstolzer Armut lebt, als dass sie ihre Hände in gemeinen Ver-
richtungen hart machte

Doch wahrhaftig! Nichts ist gethan, so lange man nicht gelernt
hat, seine Hände zu härten, so lange man nicht gelernt hat, das Gold
und Silber seiner Gedanken in einen Schlüssel umzuschmelzen, der
zwar nicht mehr das Elfenbeinthor unserer Träume, wohl aber die
Thür unseres Hauses aufschliesst. Und in einen Becher, der nicht allein
das Wunderwasser unserer Hirngespinnste birgt, sondern auch das sehr
wirkliche Wasser, das auf unser Dach fällt, nicht davonlaufen lässt;
in eine Wage, der es nicht genug ist, das, was wir in der Zukunft
vorhaben, unbestimmt abzuwägen, sondern die uns genau das Gewicht
dessen anzeigt, was wir am heutigen Tage gethan haben. Das höchste
Ideal ist nur etwas Vorläufiges, so lange es nicht geläufig durch alle
unsere Glieder rinnt, so lange es nicht Mittel und Wege weiss, uns
gleichsam bis in die Fingerspitzen zu durchdringen. Es gibt Wesen,
deren Rückkehr auf sich selbst nur ihrer Intelligenz von Nutzen ist.
Es gibt andere, bei denen dieselbe Rückkehr immer etwas zu ihrem
Charakter hinzufügt. Die einen sind hellsichtig, so lange es sich nicht um
sie handelt, so lange es nicht darauf ankommt, zu handeln; die Augen
der anderen leuchten vornehmlich auf, wenn es sich darum handelt,
in die Wirklichkeit einzugreifen, wenn es sich um eine That handelt.
Man könnte sagen, dass es ein intellectuelles Bewusstsein gibt, das
ewig auf unbeweglichem Throne sitzt und ruht, und mit dem Willen
nur durch eine Reihe von treulosen und saumseligen Botschaftern
verkehrt, — und ein moralisches Bewusstsein, das Tag für Tag auf
beiden Füssen steht und jederzeit bereit ist, auszuschreiten. Zwar
hängt dieses vielleicht von dem ersten ab, ist vielleicht nur das erste,
das, gelangweilt von einer langen Ruhe, in der es alles gelernt hat,
was es lernen konnte, sich entschliesst, endlich aufzustehen, die
Stufen der Unthätigkeit hinabzusteigen und ins Leben zu treten.
Alles ist gut, vorausgesetzt, dass es bis zu dem Tage, wo seine Glieder
es nicht mehr tragen können, sich nicht aufhält. Wer will uns sagen,
ob es nicht vorzuziehen sei, manchmal gegen sein Denken zu handeln,
als nie zu wagen, nach seinem Denken zu handeln? Der thätliche
Irrthum ist fast nie unheilbar; Menschen und Dinge pflegen ihn bald
wieder zu berichtigen; aber was vermögen sie gegen den passiven

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 882, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0882.html)