Text
Von PAUL LANZKY (Vallombrosa).
Ich lernte Nietzsche zur Zeit der Entstehung seiner »Morgen-
röthe« kennen; ich trat ihm persönlich nahe, nach der Veröffent-
lichung des zweiten Theiles von »Also sprach Zarathustra«. Damals
hoffte ich in ihm mehr als den Lehrer einer neuen Weisheit, nämlich
den neuen Weisen selber zu finden. So gieng ich als Mann zu ihm,
dem Einsiedler, in die Schule; denn ein solcher Einsiedler war er
damals mitten im Getobe von Genua und Nizza, wie in der Stille
von Sils-Maria, Rapallo und Ruta Ligure.
Was trat mir doch da als erster Widerspruch bei diesem Zer-
brecher aller alten Tafeln auf? Die Leutseligkeit, die Milde, eine
gewisse Scham, seine Lehre auch nur umschleiert vorzutragen. Nicht
als ob er sich mir verhehlen wollte, mit dem er schon Jahr und Tag
im Briefwechsel stand und den er eingeladen hatte, dorthin zu ihm
zu ziehen, »wo es dreihundert wolkenlose Tage im Jahre gebe und
man frei über alles Menschliche sprechen könne, wie der Mistral voll
Übermuthes darüber hinwegfegt.« Nein, er liebte es nicht, vor Laien
als Philosoph, vor Gläubigen als Freigeist, vor der Einfalt als der
Erkennende aufzutreten. Er, der die Härte predigte, war mitleidig bis
zur Schwäche.
In dieser rein persönlichen Schwäche hatten alle Widersprüche
zwischen dem Menschen und dem Denker ihren Ursprung. Der Er-
kennende hat es nicht vermocht, in sich den Menschen zu über-
winden mit seiner Physis, seiner Familientradition, seiner socialen
Stellung, mit allen ererbten und gepflegten Irrthümern von den Jahren
in Schulpforta bis Bayreuth. Und nicht nur dies. Wie klar Zarathustra
sein Ziel vorzuschweben scheint, so verschwommen, unsicher, uner-
reichbar erscheint es ihm selber oft. Daher die tiefe Schwermuth nach
dem göttlichen Übermuth.
Der Weise war eben eine Vorstellung, nicht ein Erlebnis, und
der Lehrer der Weisheit nichts als ein Dichter. Nicht als ob
die verkündeten Wahrheiten nicht als solche erkannt und auf neue
Tafeln geschrieben worden wären; aber die Episoden des Lebens
straften sie in ihrem Verkünder Lügen, der ihnen nicht nur nicht ge-
wachsen war, sondern sie nicht einmal in einem einheitlich durch-
leuchteten Plane schaute. So erscheint Zarathustra nicht der Lehrer
einer erworbenen und unumstösslich besessenen Wahrheit, sondern der
Ringende nach Wahrheit und Weisheit, der uns einzelne Tafeln vorhält,
aus denen wir errathen müssen, wohin er strebt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 884, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0884.html)