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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 885

Text

FRIEDRICH NIETZSCHE ALS MENSCH. 885

Als Nietzsche Wagner und Bayreuth verliess, da war er nicht
nur physisch, sondern auch psychisch ein gebrochener Mann und durch
Jahre hat er hart darunter gelitten. Langsam entstanden ihm neue
»Morgenröthen« und »Fröhliche Wissenschaften«, die der
Aussenwelt den Beweis hätten liefern können, dass er nicht geistig
vernichtet war; aber jene Aussenwelt bestand für die neue Richtung
des Arbeitenden nicht. Die Wagnerianer schwiegen ihn todt, und kein
anderer ahnte, was in diesem erwachten Kopfe vorgieng. Er selber
wusste es nicht oder vermochte nicht, an sich zu glauben; erst als
er Jahr für Jahr einen neuen Band von welterstürmenden Gedanken
vor sich sah, die ihm im Hochgebirge gekommen waren, und denen
er die Durchsichtigkeit des Südens gegeben hatte, kam ein neuer
Muth über ihn, der ihn zum Hochmuth verleitete. Erst so wurde der
Philosoph der Wiedergeburt und der Lehrer des Übermenschen geboren;
erst so wurde Nietzsche — Zarathustra in der Vorstellung.

Ich wiederhole: in der Vorstellung. Mehr als einmal hat mir
Nietzsche von dieser Idealfigur gesagt, dass er »vor ihr kniee«. Trotz-
dem ist unschwer zu erkennen, dass er 1888 in ihr aufzugehen glaubte.
Aber schon das reine Ideal mit seinen vagen Umrissen, mit so vielen
Unbestimmtheiten neben klaren Aussprüchen, mit so tiefer Schwer-
muth und Düsterheit neben dionysischer Ausgelassenheit, lässt errathen,
dass Stimmung mit Erkenntnis wechselt und bald jene, bald diese die
Oberhand gewinnt.

Es ist nicht meine Aufgabe, mich mit dem Lehrer der »Ewigen
Wiederkunft« und dem »Umwerter aller Werte« zu beschäftigen. Ich
habe nur den Menschen und nicht einmal den Dichter im Auge. Es
mag keine ewige Wiederkunft geben, und alle Wertschätzungen mögen
weder in einer Secunde, noch in einem Jahrhundert neu gewogen
werden können, so bleibt doch der Mensch Nietzsche übrig, welcher
jene Probleme erwogen hat und vor ihnen zusammengebrochen ist.
Mit ihm allein habe ich zu thun.

Dieser Mensch war zartbesaitet, ja extrem feinfühlig. Er konnte
keinen gläubigen Christen auch nur ahnen lassen, auf wie absolutem
Irrwege er ihn wähnte. Er verkehrte mit jungen Mädchen im Zwie-
gespräche wie eine Idealistin. Er gieng auf jede Überzeugung eines
Partners ein, als ob sie die seine wäre, und ventilierte alle Richtungen
nach diesem Grundsatze. Er sprach über alle Tagesfragen gemäss der
öffentlichen Meinung. Er bemitleidete aufrichtig die Kranken, die Ver-
unglückten, die Mittellosen, die Betrübten. Dann trat er zwischen seine
vier Wände und fand sich kränker, unglücklicher, mittelloser und be-
trübter als alle jene, die er hatte zu trösten suchen, und ausserdem
mit sich unzufrieden, dass er nicht hatte hart sein können, wie er es
gewollt hätte, und weil er selber nach Mitleid lechzte, für welches er
dankbar war, wenn es ihm zuflog.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 885, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0885.html)