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Wie konnte solch ein Mann für die Einsamkeit geschaffen sein,
die ihn aufrieb! Er bedurfte des gesellschaftlichen Milieu, in dem er
gelebt hatte, ohne in ihm aufzugehen; und zugleich erhielt er dort den
Beweis, dass sein eigener Gedanke die Verneinung dessen war, was
seinem Gemüthe wohlthat. Folglich, dass das Leben seines Geistes
nichts mit dem seines Gemüthes gemein hatte. Er musste aber dem
Geiste folgen und konnte doch dem Gemüthe nicht entrinnen. Das
musste nothwendig nicht nur zur Tragik führen, sondern sie voraus-
sehen lassen. Hierdurch entstand ein Grausen vor dem Alleinsein, von
dem alle Fernstehenden keine Ahnung haben können.
Diesen Nachtgedanken zu entrinnen, suchte die Natur nach Sonne,
Bewegung, Arbeit, Befreiung auf jegliche Weise. Daher die immer
wiederholte Rückkehr in den Süden von 1876 bis 1888, die peri-
patetische Art der Composition der Werke, der Hass gegen Nacht,
Wolken und eingezwängte Luft. Daher endlich der Gebrauch des
Chlorals, weil der natürliche Schlaf nicht rechtzeitig mehr eintreffen,
noch genügend anhalten wollte.
Des Missbrauchs dieses Mittels war sich Nietzsche sehr wohl
bewusst. Mit schwerem Bedenken gestand er mir schon Anfang 1885
den zweijährigen allnächtlichen Gebrauch des Chlorals und schrieb
mir einige Monate später aus Venedig, dass er auf mein inständiges
Bitten auf dieses gefährliche Schlafmittel verzichtet habe. Die Unter-
brechung wird indessen nicht lange gedauert haben, denn im Herbst
desselben Jahres gebrauchte er es abermals und 1886 wieder regel-
mässig. Und schliesslich sah der Ärmste im Chloral nur ein noth-
wendiges Antidot gegen die abnorme Arbeitsfähigkeit seines Gehirnes.
Dieselbe war allerdings von einer aussergewöhnlichen Beanlagung.
Im Gespräch wie im Vortrag machte Nietzsche sofort den Eindruck
eines deutschen Professors, der sein Thema beherrscht und es bedächtig
vorträgt und reichhaltig erörtert. Nicht viel langsamer schrieb er seine
Gedanken nieder, die er ein zweitesmal überarbeitete, wenn er sie
dem Druck übergeben wollte. Gleich den Dichtern hatte er seine
fruchtbaren Wochen und Monate, auf welche dann eine Zeit der
Erschöpfung und schwereren Unwohlseins folgte. Bedenkt man, wie
wenig Zeit einmal die äusserste Kurzsichtigkeit, sodann das allgemeine
Missbefinden dem Denker gewährten, seine Aphorismen niederzuschreiben,
so wird man nicht umhin können, sein Erstaunen über die Reich-
haltigkeit derselben — von der Energie, sie niedergeschrieben zu
haben, abgesehen — auszudrücken.
Die Energie zur Arbeit war bedeutend, während es mir stets
aufgefallen ist, wie schwach Nietzsche erschien, wo es sich um Über-
windung eines jener regulären Unwohlseinsfälle handelte. Die Magen-
beschwerden, die oft zum Erbrechen führten, wie die qualvollen Kopf-
schmerzen machten ihn jammern wie einen Knaben und an jeglicher
Besserung für immer verzweifeln, während in der Regel nach 12 bis
24 Stunden die Krisis nicht nur überwunden, sondern vergessen oder
verspottet war. Die unmittelbaren Ursachen der Krisen hätten bei einiger
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 886, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0886.html)