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Aufmerksamkeit ganz oder grösstentheils vermieden werden können;
die tieferen nicht. Nietzsche wusste sich nicht zu nähren; sprang von
einem Extrem ins andere und war doch nie beim Essen, sondern bei
der Idee, die ihn gerade beschäftigte. Das hieng natürlich von seinem
Gehirn ab und sein Gehirn war krank, selbst als es noch gesund schien.
Ich weiss sehr wohl, was Frau Elisabeth Förster-Nietzsche und
alle diejenigen sagen, welche an die plötzliche Lähmung einer Gehirn-
schicht glauben; ich weiss aber auch, was mir Irrenärzte 1889 darüber
schrieben und Dr. Breiting in Genua viele Jahre vor der Erkrankung
befürchtend äusserte. Vor allem vergesse ich in meinem Leben nicht,
was mir der unglückliche Meister 1885 offen und mehrmals versteckt
angedeutet hatte: nämlich, dass er auf ein Los, wie es ihm dann
schrecklich zugefallen ist, vorbereitet wäre, ihm aber zuvorzukommen
hoffte. Letzteres hat er nicht vermocht, doch die blosse Hoffnung darauf
liess ihn doppelt verwegen mit dem Leben spielen.
Denn ein Spiel war es für ihn selber, an dem er mit dem trun-
kenen Auge des Heros Gefallen fand, der da glaubte, die letzte List
im Hintergrunde zu haben, um seinem stärkeren Widersacher zu ent-
gehen, nachdem er sein letztes Geheimnis errathen und offenbart hatte.
Nur so ist der Übermuth vor der erkannten Gefahr zu verstehen,
und da sie nicht weiter zu nahen schien, während das Hauptwerk
heranreifte, so trat ihre Bedeutung um so mehr zurück, als der Ver-
künder des Uebermenschen in jenem Stadium angelangt war, wo er,
eins mit Zarathustra selber, der Lehrer der ewigen Wiederkunft
wurde. Da verhinderte der Wahn die letzte Vorsicht, der Katastrophe
auszubeugen oder ihr zuvorzukommen.
In Nietzsche war der Dualismus der menschlichen Natur ver-
schärft worden, als er der Kunst entsagte und unter die Philosophen
gieng. Er hat es nie verschmerzen lernen, das Reich des Trostes
verloren zu haben, in welchem ihn Religion und Kunst wie ein
geängstetes Kind einlullten, während die Wissenschaft für die Bangig-
keit des Gemüths kein Ruhekissen gewährte. Der enttäuschte Mensch
wurde besänftigt und eins mit sich unter dem Erklingen einer Melodie;
Zarathustra, der Gott- und Wahnlose, kannte nie mehr diesen Frieden
seines Herzens, das vergeblich ausgedörrt werden sollte. Und weil dies
nicht gieng und immer etwas weiterlebte, kam der Ausbruch des
Hasses in dem giftigen Pamphlet wider den alten Zauberer des »Par-
sifal« und die grässlichste Anklage, die je wider einen Gott erhoben
wurde, im »Antichrist«.
Hier verräth sich die wunde Stelle des inneren Lebens Nietzsches
und der unversöhnliche Zwiespalt zwischen dem Denker und dem
Menschen. Dieser kann ohne religiöses Gefühl und Musik nicht leben,
jener versucht für sein Leben immer umsonst sie durch die Erkenntnis
ihres Ranges zu berauben. Der Mensch siegt über den Denker, um
dem Fatum zu erliegen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 887, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0887.html)