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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 888

Text

888 LANZKY.

Dieser Kampf war der Öffentlichkeit verborgen; selbst die intimsten
Freunde Nietzsches gewahrten kaum etwas davon, und was sie sahen
oder hörten, deuteten sie anders. Das war die weltfremde Einsamkeit,
unter welcher der Verlassene seufzte, verbittert durch die Einsicht,
dass selbst der Wert seiner Werke nicht erkannt und zumal sein Ideal
nicht gewürdigt wurde.

Aus diesem Grunde war er wahrlich allein, und wenn ich einen
Blick in diese seine Einsamkeit und so in sein Leben und Streben
habe thun dürfen, so war es hauptsächlich aus dem Grunde, weil ich
ein Wort hingebender Zuneigung für seine Lage gefunden hatte.
Dafür war er dankbar, wie ein Verdurstender dankbar ist für einen
Schluck Wasser.

Doch unendlich mehr als Dank habe ich von ihm, den ich als
erster Meister nannte, empfangen: Eine neue Stellung zum Leben:
dass wir nicht nach Glück und Lust auslugen und den Wert des
Lebens nur nach ihnen bemessen sollen; einen neuen Lebensmuth
unter den ungünstigsten Umständen, und je ungünstiger die Umstände
einen um so grösseren Muth. Eine weittragende Einsicht, der wir
nicht gewachsen sind, mag unser Leben vernichten, aber nachträglich
verwünschen, sie geschaut zu haben, wäre unmännlich.

So empfand auch Nietzsche. Er ist durch Einöden gegangen
wie kaum ein moderner Mensch, und er hat unter der Erkenntnis
aufgejauchzt wie kein zweiter. Gegen seine Lehre hat er alle jene
gewarnt, die nicht seines Schlages sind; gegen sein Leben würde er
noch andere warnen, wenn er ihm nicht zum Opfer gefallen wäre.
Aus diesem Opfer haben wir zu lernen, dass die Einsicht nicht alles
ist; und dass jede Einsicht, die uns mit unserem Gemüth in unheil-
baren Conflict bringt, nicht ohne weiters als absolute Wahrheit
angenommen werden darf. Der »dunkle Drang«, von dem Goethe
spricht, ist sich des »rechten Weges« viel besser »bewusst«!


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 888, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0888.html)