Text
Von RAINER MARIA RILKE (Schmargendorf).
Eine Befreiung vollzieht sich. Bald werden es alle wissen: die
Leibeigenschaft der Dinge ist aufgehoben.
Das Edict ist kaum gegeben. Aber das befreite Geschlecht blüht
schon in breiter Entfaltung. Es hat so viel schlafende Kraft, so viel an-
gestauten Willen, so viel Ungesagtes und Unberührtes in sich. Es
war wie in Sünden und hat lügen müssen und sich verleugnen, jahr-
hundertelang. Bis sein Messias kam: der Künstler.
Holz darf Holz sein und Eisen — Eisen. Nicht allein das: ein
jedes darf sich seiner Eigenart rühmen. Und wie sie das thun: schlicht
und heiter, wie Kinder, die sich über den Bach neigen.
Von allen, welche den Dingen zu sich selber helfen, begreift sie
keiner so wie Van der Velde. Er kennt sie alle ganz genau und
weiss ihre heimlichsten Wünsche. Er hat die echte Liebe zu ihnen:
er verzärtelt sie nicht, er erzieht sie. Sie sollen nicht Müssige werden.
Er will sie stark und still und arbeitsam. Er neigt sich zu jedem:
»Was willst du werden?« Und dann lässt er es einfach reifen und
schützt es nur, dass es in Schönheit werde.
Denn die Schönheit ist das Primäre, das Natürliche. Alles, was
wird, wird schön. Man darf es nur nicht stören.
Van der Veldes jüngstes Werk ist die Einrichtung eines Raumes
in der nach dem Umbau neu eröffneten Kunsthandlung von Keller
und Reiner in Berlin. Es bestätigt ihn. Thorfüllungen, Vitrinen,
Tische, alles in hellem Holz, leicht, ruhig, gesund. Alle Bewegung
breites Wellenschlagen, ein rhythmischer Ausgleich von Last und
Kraft. Nirgends Hast, nirgends Angst. Wie in festen Angeln schwingt
die Bewegung. Und sie wiederholt sich freier und leichter oben im
Fries. Die Farbe macht alle Dinge verwandt und gibt dem Raum
eine einheitliche Selbstverständlichkeit; man vergisst fast die Einzel-
heiten zu betrachten, so sehr dienen sie alle einträchtig dem Ganzen.
Die Organisation ist bewundernswert. Nirgends wird Kraft verschwendet,
aber sie geht auch nirgends verloren. Die riesige erste Thorfüllung
hebt, da sie sich nach erfüllter Arbeit noch stark fühlt, zwei kleine
Tischträger dem Eintretenden entgegen. Jede Linie lebt sich aus.
Die anderen Räume sind noch nicht ganz vollendet. Sie wirken
wie Versuche nach dieser ruhigen That Van der Veldes. Schultze-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 889, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0889.html)