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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 898

Text

898 LIE.

»Aber dann frag’ ich nur, wer daran schuld ist, dass ich heut’
zu der Sauferei hinaus musst’?

»Ja—a, ja—a, wie es kam, Du Da war es aus mit aller
Barschheit und Unfreundlichkeit, und man drehte sich und lächelte,
wie Butter, und bot Essen und Bier, um den Segelmacher in die
Stube hineinzulocken. Hätte sie nur erst die Vögel da drinnen, dann —
dann würden sie schon auf der Leimruthe sitzen bleiben — Hi hi hi —
sie bringt ein paar alte Kerle ins Geleise zum Trinken, und dann
rennt sie, Gott helf mir, zum Hause hinaus! — Lässt uns da auf
dem Trocknen sitzen und dursten und uns langweilen Schlimmer,
als wenn es nur aus Malice ausgedacht wär’

»Da war es mit eins das Kleid für die Mären, um das Du Dich
so zerriss’st — — Und — hü — ü — wenn es sich um die Kinder
handelt, dann — —

»Aber der Mann! an ihn denkt sie nicht mehr so viel —.
Er« — der Ton des Bootsmanns wurde gallenbitter — »er soll nur
arbeiten und sich abrackern, bis er alt und grau wird, wie ein abge-
nutzter Schrobber

»Aber da ist nun die Leber, auf die ich zu hoffen habe
Um den Unfug anzusehen — wie Du gehst und Dich abrackerst und
quälst und rennst und schänd’st im Sonnenbrand, so dass Du oben
auf der Höh’ stehst und schnaufst — obgleich Du weisst, dass Du
Asthmakrämpfe kriegen kannst Früher war da ein ewiges Gezeter
mit all den neun Kindern, die gewaschen und gekämmt und gespeist
und zur Weisheit und Zucht ausgeschimpft wurden. Aber nun ist es,
bei Gott, um nichts besser. Sie fährt wie ein Ballon ohne Steuer
herum, nachdem sie den ganzen Ballast gelichtet hat «

»Nun mach’ ’nmal, dass Du in’s Bett kommst, Rusten« —
suchte ihn seine Frau anzutreiben, ohne auf sein Gerede zu achten.

»He, he, beisst nichts an der Gerechtigkeit an — die ist wohl
poliert —

»Nein, ob sie nicht dem richt’gen Gertrudsvogel ähnelt
Sie hat einen Schnabel wie eine Eule — und Augen wie ’ne Gans
— und krächzt — — und krächzt —« lachte er und brummte.

»Du konntest doch wohl Marens Kleid fortschicken, Gertrud« —
fuhr er plötzlich eifrig in die Höhe.

Eines Morgens einige Wochen später hiengen weisse Laken vor
den Stubenfenstern droben auf der Höhe bei Rustens, sowohl nach
dem Garten, als nach der Strasse hinaus. Die Frau war am Tage
vorher gegen Abend unter einem Asthma-Anfall gestorben.

Drinnen gieng der Bootsmann herum, aus der Wohnstube in
die Schlafkammer und wirtschaftete umher, und wenn er eine Weile
drinnen gesessen und sie angesehen hatte, dann wieder hinaus in die
Stube. Sie lag noch im Bett, mit geschlossenen Augen, die Nase in

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 898, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0898.html)