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die Höhe und mit einem Haubenbande, das Mutter Jensen unter ihrem
Kinn geknüpft hatte, als sie ihm heute morgen dabei half, die Leiche
zu waschen — sie lag ganz wie immer, so unangefochten, als wenn
sie ihn nicht beachtete, noch bemerkte; mit ihrem kleinen, launigen
Zug unter dem Munde, als wenn sie seine ewigen Bemerkungen über
sie wohl verstehen und begreifen könnte, wenn sie nur wollte.
In der Stube probierte er einen Stuhl, dann einen andern. Da
sass er und kaute an den Knöcheln und murmelte
»Dacht’ ich mir’s nicht dacht’ ich mir’s nicht — sie musste
sich ja abrackern, bis sie eines schönen Tages «
Er fuhr wieder unruhig auf, öffnete den Schrank, sah in ihn
hinein, machte ihn wieder zu stand dann am Kaffeetisch, auf dem
der Nähstein mit Stecknadeln darin und einem Wollfaden lag, der an
der Stopfnadel herabhieng, und grübelte. Er rührte ihn nicht an, rückte
ihn nicht weiter, sondern sah ihn nur an.
Er starrte umher nach dem Tellerbrett in der Küche. Da zog
die Katze sich lang und demüthig unter der Bank hin und glotzte ihn
unverwandt mit ihren leuchtenden, brandgelben Augen an — und
endlich ertönte ein jämmerliches Miau. Ihm wurde ganz kalt, als sähe
er wieder den Schiffsgeist, wie in jener Unglücksnacht in der Geräth-
kammer, als ihr Fahrzeug Schiffbruch erlitt und sieben Mann auf
Sandby-Hook untergiengen.
Und er gieng still in den Verschlag hinein, wo ihre Kleider und
Schürzen an den Kleiderhaltern hingen und die Schuhe mit Schnür-
bändern darunter standen.
Sein Gesicht verzog sich und er athmete mehrmals schwer und
tief, als wenn er stöhnte.
Dann musste er wieder auf Zehenspitzen in die Schlafkammer
hineinschleichen dort sitzen, wie er die ganze Nacht gesessen hatte,
und sie anstarren und denken, sie könnte ihn erkennen und bemerken
und dass sie doch nicht fort wäre Es war ja so wenig, was sie
trennte —
Dass sie nun ganz fort sein sollte —
So, wie sie zusammen gelebt hatten, seit sie achtzehn Jahre alt
war — siebzehn, ja schon vor der Zeit.
Er besann sich auf so vieles, seit der Zeit, da sie noch als kleines
Mädchen unten an der Landungsbrücke herumsprang und wie er
sie geneckt und mit ihr seinen Scherz getrieben hatte.
Er sass am Bett und blickte starr auf sie hin und begriff
nicht dass Gertrud seine Frau — aufgehört — aufgehört hatte
zu existieren sie, die da lag, so dass er ihre Hand erfassen
konnte Ein Stückchen vom Gesichtsschatten zeichnete sich schwach
grau gegen die Wand ab und es stieg vor seinem Auge etwas empor,
wie aus einem andern Land, wo Gertrud ohne ihn leben sollte.
Da glitt eines ihrer Augen halb auf und er sah, dass sie ge-
brochen waren. Ein eisiges Entsetzen durchfuhr ihn. Das war die
Gewissheit — Gertrud war todt — fort.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 23, S. 899, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-23_n0899.html)