Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 909

Die Mondscheinsonate (Wolff, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 909

Text

DIE MONDSCHEINSONATE. 909

Stransky. Ich danke, jetzt habe ich viel zu thun. Ich bin ja in
der Saison. Aber dennoch, das Geschäft ist schwächer als in den
früheren Jahren.

Frau Klein. Ja, alle Leute klagen.

Stransky. Ich weiss nicht, wie das enden wird.

Frau Klein. Die Concurrenz ist so gross.

Stransky. Sie müssen sagen, die schmutzige Concurrenz ist so
gross. Man kann nicht reell bleiben. Die Anständigkeit wird nicht
mehr bezahlt.

Frau Klein. Ja, wir leben in einer schweren Zeit.

(Pause.)

Frau Klein. Sie müssen uns für einen Augenblick entschuldigen,
Herr Stransky. Wir haben noch etwas in der Küche nachzusehen.

Stransky. Aber bitte, bitte.

Frau Klein. Bei den heutigen Dienstboten geht das nicht anders.
Das sind bezahlte Feinde. Wir müssen uns um alles allein kümmern.
Rosa, leiste dem Herrn Stransky inzwischen ein wenig Gesellschaft.

Rosa. Ja, Mama. (Frau Klein und Grete ab.)

6. Scene.

Rosa. Stransky.

Stransky (nach einer Verlegenheitspause auf das Buch hinweisend).
Ich habe Sie im Lesen gestört?

Rosa. O, nein.

Stransky. Was haben Sie Schönes gelesen?

Rosa. Tolstoi.

Stransky. Tolstoi. So! Dürfen Sie Tolstoi lesen?

Rosa. Ja, warum denn nicht?

Stransky. Nun, nun, ich meinte nur, ich habe nämlich gehört,
Tolstoi soll, wie es scheint, pikant sein.

Rosa. O, nein.

Stransky. Dann vertausche ich ihn.

Rosa. Sie lesen wohl nicht viel, Herr Stransky?

Stransky. Aufrichtig gesagt, gar nichts. Ich habe keine Zeit
dazu. Sehen Sie, ich bin den ganzen Tag im Geschäft und abends
froh, wenn ich nur die Zeitung auslesen kann.

Rosa. Ja, das sehe ich ein.

Stransky. Und, sehen Sie, ich hätte das Bedürfnis zu lesen,
denn ich bin im Grunde genommen, eine sehr romantische Natur.

Rosa. Wirklich?

Stransky. Ja, ja, sehen Sie, wie ich jung war, wollte ich
immer Matrose werden. Als ich ein wenig älter wurde, war meine
Sehnsucht, Schauspieler oder Dichter zu werden, und schliesslich handle
ich mit Wirkwaren.

Rosa. Ja, das Leben ist grausam.

Stransky. Aber hübsch haben Sie es hier.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 909, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0909.html)