Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 916

Nationales Königthum (Ibsen, Dr. Sigurd)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 916

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NATIONALES KÖNIGTHUM.
Von Dr. SIGURD IBSEN (Christiania).

Der grosse Napoleon soll einmal geäussert haben, als er als
Gefangener auf Sanct Helena sass, dass Europa in fünfzig Jahren
entweder kosakisch oder republikanisch geworden sein dürfte. Diese
fünfzig Jahre sind längst verflossen, aber, wie wir alle wissen, ist die
Prophezeiung weder in der einen, noch in der andern Richtung in
Erfüllung gegangen. Der Kosak dringt in Asien vor, und die Republik
hat Amerika erobert; aber keiner von beiden ist Herr über Europa
geworden. Wenn man von einigen Ausnahmen absieht, ist Europa
noch heute, was es ein Jahrtausend gewesen: eine Reihe grösserer
und kleinerer Monarchien. Und es hat nicht den Anschein, als sollte
hierin so bald ein Wandel eintreten. Freilich gab es eine Zeit, und
sie liegt uns nicht so fern, dass nicht ältere Leute sich ihrer erinnern,
als Fürsten ohne weiters vertrieben wurden, und in Ost und West
Republiken emporschossen. Im Jahre 1848 konnte es wirklich scheinen,
als wenn das Königthum in seinen Grundfesten erschüttert wäre, aber
bereits zwei Jahre später war der Schauplatz verwandelt: die Aufstände
waren unterdrückt, die Souveräne triumphierten. Das zähe Leben des
Königthums, das schon früher viel überstanden hatte: die Kritik der
Philosophen, die Leidenschaft der Jacobiner, all den Groll und Hass, den
es durch die Verbrechen der Heiligen Allianz erregt hatte — hatte bewiesen,
dass es auch den Waffenlärm der Barrikaden überstehen könne. Und
nicht genug damit: seit 1850 beginnt eine neue Periode in der Ge-
schichte der europäischen Monarchie. Nach allen Widerwärtigkeiten
gleitet sie in ein ruhigeres Fahrwasser hinein und kann sich heute
eines sichereren Daseins erfreuen, als sie das jemals gekonnt, seit
der grossen Revolution.

Diese Wiedererhebung der Monarchie im Laufe der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts erscheint auf den ersten Blick als etwas
ganz Wunderbares. Es scheint in jedem Fall in solchem Widerspruch
au stehen mit dem, was so viele als die natürliche Logik der politischen
Entwicklung anzusehen pflegen, dass es wohl der Mühe wert sein
dürfte, zu versuchen, sich die Ursachen dieses Phänomens klarzumachen.

Es besteht kein Zweifel: die Monarchie hat noch heute tiefe
Wurzeln im Bewusstsein des Volkes. Sie ist fast überall die ererbte
Regierungsform, sie prangt mit grossen Namen und unauslöschlichen
Erinnerungen, und sie entfaltet einen äusseren Glanz, der auf die Seelen
der Massen auch nicht seine Wirkung verfehlt. Sie ist umhegt von
Kanonen und Bajonnetten, von einem Heer von Beamten, der dicht-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 916, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0916.html)