Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 14

Das Tagebuch eines Bettlers Der Freund (Eloesser, ArthurAltenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 14

Text

ALTENBERG: DER FREUND.

alles, den Menschen nichts zu danken
haben will. Selbst die Treuesten verliessen
ihn, schwindlich von dem Wirbelwind seiner
mystischen Speculationen, sie konnten in
dieser von göttlichen Befehlen erfüllten
Atmosphäre nicht leben. Mit grimmiger
Genugthuung hat er jeden Verrath, jede neue
Desertion in seinem Tagebuche verzeichnet.

So steht er allein in einem Kampfe,
in dem er der einzige Kämpfer und Rufer
ist, in dem er nicht einmal einen Gegner
findet. Er schlägt auf die Gesellschaft im
Namen seines Gottes, und niemand fühlt
sich getroffen, er droht, und man beachtet
ihn nicht, er schreit, und man hört ihn
nicht. Gleichmüthig zieht die Menge an
ihm vorbei, gleichmüthig drängt sie ihn
an den Abgrund, der ihm sein Leben lang
gedroht hat, an den Abgrund des Schweigens.
Sein letztes Werk ist der Angstschrei des
Verzweifelten, der krampfhaft an den Rand
dieses Abgrunds geklammert in die unend-
lich gähnende Tiefe starrt.

»Fallen mus er, der Elende! Nichts
kann ihn retten, denn Gott selbst will, dass
er fällt.

Vergebens hat er versucht, sich an
die Himmel zu klammern. Die schaudernden
Sterne sind zurückgewichen.

Vergebens hat er die Engel angerufen
und die Heiligen, die Häuptlinge der Engel
und die Häuptlinge der Heiligen. Vergebens
hat er die schmerzensreiche Jungfrau ge-
beten. Die vier Ströme des Paradieses
sind zu ihren Quellen zurückgewichen, um
seinen Schrei nicht zu hören

Ah, du hast etwas sagen wollen, du!
Du hast die Worte und die Versprechungen
ernst genommen und du hast die Menschen
gegeisselt, unwissend, dass sie selbst Götter
geworden sind. Du hast die Kraft gesucht,
die Gerechtigkeit, den Glanz. Du hast die
Liebe gesucht. Nun denn! Hier ist der
Abgrund, hier ist dein Abgrund. Er heisst
das Schweigen

Er ist gefallen, der Lästerer der Brut,
für immer, ohne Zweifel. Man wagt es
zu glauben. Dennoch, wer weiss? Die
Tiefen haben zuweilen seltsame Über-
raschungen. Wer von der Brut, der satten,
widerwärtigen Brut, weiss, ob dieser
Arme nicht wieder erscheinen wird eines
Tages, über der Finsternis, in der Hand
eine prächtige mystische Blume — die
Blume des Schweigens, die Blume des
Abgrunds?«


DER FREUND.
Von PETER ALTENBERG (Wien).

Dem Hofrath Arthur von Scala, dem idealen Vorkämpfer aristokratischer Kunst, zugeeignet.

Alles ereignete sich für Jolanthe in
milden guten Ordnungen.

Nirgends hatte sie Gelegenheit,
innerlich aufzubegehren.

Wie ein Reicher, welcher niemals
denken könnte: »Die armen Frierenden!«

Wie ein Magenkranker, der immer
weichen Reis erhielte, gequirlte Dotter,
Spinat, Rebhühnerbrüste.

Wie empfindlich du auch immer
organisiert sein magst, bist du nicht
gleich dem Widerstandsfähigsten, wenn
man dir bietet, was dich nicht belastet?!

Alles erhielt Jolanthe.

He, ein Harzer, ein Edelroller, Licht-
schlager, bedarf für seinen Edelsang der

Morgensonne und des Sommerrübsen;
Schatten und Hanfsame verderben ihn.

Einmal im Monate, an jedem 15.,
erschien aus England für Jolanthe das
Heft »The Studio, an illustrated Maga-
zine of fine and applied Art«.

An diesem Abende sass Jolanthe
immer nach dem Souper in einem
niederen Fauteuil in der Ecke bei der
milden englischen Stehlampe, welcher
sie den Namen »Edith« gegeben hatte
und welche sie mit Zärtlichkeit und
Dankbarkeit behandelte wegen ihres
angenehmen Lichtes.

Auf ihren zarten Knien lag das
Heft »The Studio« und langsam wen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 14, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0014.html)