|
dete sie Seite um Seite, oft zurück-
blätternd und wieder Halt machend.
Manchesmal machte sie sehr lange
Halt.
Dann sagte der Gatte: »Jolanthe.«
— — —
Und sie blätterte weiter.
Nie rief sie ihn, nie sagte sie: »Du
schau’ — — —.«
Er blieb an dem grossen Tische
sitzen, rauchte ruhig, ruhte aus vom Tage.
Sie sass in dem niederen Stuhle,
blätterte.
Sie sah die weltentrückten Damen
des Burne Jones, welche gleichsam be-
reits auf der Erde bloss mit den Zehen-
spitzen standen, ferner wunderbare ganz
schlanke nackte Leiber in Marmor, ver-
schiedene Dinge in Elfenbein und ge-
triebenem Kupfer, Reliefs in Stahl und
Gold, unendliche satte Wiesen mit ver-
einzelten Baumriesen, Wasser und Erde
an Regentagen, die Sonne durch schwarze
Baumkronen hindurch Adieu sagend,
Teiche mit kerzengeraden Schwertlilien,
Jungfrauen splitternackt auf Pferden,
Blumen aus Japan. Ein Bild hiess:
»Dame, sorgenlos auf einer Bodentenne«.
Eines hiess: »Ich gab — — —.« Ein
kleines zwölfjähriges wundervolles ganz
nacktes Mädchen, eine fertige, aus dem
Leim gegangene Frau mit einem Säugling
an den welken Brüsten. Sie hatte ge-
geben, der Zwölfjährigen die Schönheit,
dem Säugling die Kraft. »Sie gab —
— —«, behielt wirklich nichts zurück.
Dann das Lieblingsbild: »Lady
Godiwa«. Der Herr über Lady Godiwa
sagte: »Ich will deine Armen in der
Stadt vor Hungertod retten, wenn du
nackt durch die Strassen der Stadt
reitest«. Lady Godiwa ritt splitternackt
durch die Strassen der Stadt. Aber die
englischen Bürger hatten sämmtliche
Fenster und Thore geschlossen und
verhängt und kein englischer Bürger
erblickte die heilige Pracht ihres Leibes!
Am häufigsten waren in diesen Heften
friedevolle Parklandschaften abgebildet.
Endlich irgend einmal das Porträt von
Burne Jones selbst. Dieses schnitt
Jolanthe heraus, verwahrte es irgendwo.
|
Manchesmal trat der Gatte an die
Stehlampe, corrigierte das Licht, rückte
den weiten grünseidenen Schirm, zog
sich zurück.
Wie ein Feiertag wurde dieser
15. des Monats. Jedenfalls wie ein
anderer veränderter Tag.
»Ich bin in England,« fühlte sie,
»in England!«
Einmal fragte jemand an einem
solchen Tage den Gatten: »Wo ist
Jolanthe?!«
»Sie ist in England,« erwiderte er
einfach.
Nie berührte er Jolanthe nach einem
solchen Abende, in einer solchen Nacht.
Einmal costümierte sie sich als Burne
Jones - Dame: Ein leichter weisser
seidener Mantel in tausend Plissés,
über den nackten Leib, und tief ge-
scheitelte Haare. In der Hand einen
langen Blumenstengel. Aber niemand
erblickte diese Costümierung.
Eines Abends sass der Gatte allein
und erwartete Jolanthe, welche einen
Spaziergang gemacht hatte.
Er nahm das Heft »The Studio«,
betrachtete mit Interesse die schönen
Bilder.
Lautlos trat Jolanthe ein.
Der Gatte schloss rasch das Buch,
schob es von sich, erröthete, wurde
ganz verlegen.
Da legte Jolanthe ihre Wange an
seine Schläfe, gab ihm mit ihren zarten
Armen und Händen ihre ganze Zärt-
lichkeit.
An diesem Abende sagte sie beim
Blättern in dem Hefte einmal zu ihm:
»Du, schau — — —«.
Er aber blieb ruhig sitzen an dem
grossen Tische, rauchte, ruhte aus
vom Tage, umfieng die süsse Gestalt
der Leserin mit dem liebevollsten väter-
lichen Blicke,
Und Jolanthe betrachtete wieder für
sich die weltentrückten Damen und die
Parklandschaften der englischen Herren-
sitze.
So lebten diese in Frieden mit-
einander, Jolanthe, Jolanthe’s Gatte und
»Studio«, das schöne Heft aus England!
|