Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 16

Hellenismus und Gothik (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 16

Text

SCHMITZ: HELLENISMUS UND GOTHIK. HELLENISMUS UND GOTHIK.
Von OSCAR A. H. SCHMITZ (Berlin).

Man hat uns gelehrt, zweimal seien
aus der gestaltlosen Flut menschlicher
Gefühle und Gedanken deutlich harmonische
Gebilde hervorgetaucht, die in ihrer zweck-
dienlichen Beschränkung und dem unge-
suchten Reichthum ihrer Formen den
Werken der Natur verwandt geschienen,
deren organische Kraftvertheilung dem zer-
störenden Anprall der ewigen Brandung
lärmender Widersprüche stand gehalten
habe. Zwischen den sonnigen Höhen,
welche ob den blauen jonischen Gewässern
von den braunen Säulengängen verfallender
Tempel gekrönt werden, und den schwarz-
beschatteten Thälern, aus welchen die
Thürme gothischer Dome über die Wolken
streben, hat des Menschen Hand keine
Form gebildet, noch hat seine Zunge ein
Wort gesprochen, die nicht der Cultsprache
eines dieser beiden Heiligthümer verwandt
gewesen wären, in welchem nicht die
hellenische Heiterkeit oder die gothische
Sehnsucht angeklungen hätte. Dieser über-
müthigen Zeit aber, welche eine neue zu
sein wähnt, wäre zuzurufen, dass sie nicht
mehr sein kann als eine Wiedergeburt,
aber nicht hellenischen Lebens, dessen
Abglanz über der Christenheit geruht seit
den Tagen, da Botticelli seinen Gestalten
einen Hauch zu geben wusste »von Mit-
gefühl für Menschenthum in seiner Un-
gewissheit, in seiner anziehenden Kraft,
und zu seltenen Augenblicken in seiner
Einkleidung in einen Charakter von Liebens-
würdigkeit und Kraft«,* bis zu den letzten
Klängen des Requiems, welches von Mozarts
Todtenbett aus der dämmernden Welt den
Heraufzug der Nacht verkündete; sondern
einer Wiedergeburt gothischer Sehnsucht
über jenen verdunkelten Himmel hinaus
verdanken diejenigen Formen ihre Kraft,
welche sich bis jetzt aus dem Chaos des
heutigen Lebens gehoben haben. Es soll
hier weder von Heiden noch von Christen
gehandelt werden, denn so wenig der Adept
des griechischen Tempels ein Heide war, so

wenig ist der gothische Beter ein reiner
Christ, beide schauen in das Auge desselben
dreieinigen** Gottes; aber während den
einen jener schöne Knabe mit der um-
gekehrten Fackel die sanften Stufen in
das Schattenreich hinabgeleiten wird, er-
wartet jenen die hässliche Gestalt des
Teufels vor den Pforten der Ewigkeit. Diese
Verkörperung des Hässlichen und Bösen
in einer Gestalt*** — eine Abgötterei,
die dem reinen Christenthum durchaus
fremd ist — war das mächtigste, eigen-
thümlichste und einflussreichste Symbol der
Gothik; derselbe Aberglaube lebt in dieser
Zeit wieder auf, die ihn ihrem Sprach-
gebrauch gemäss lieber mit ästhetischen
als ethischen Formeln kundgibt. Sie glaubt
an das Hässliche als eine positive Macht,
welchem das Schöne wie Ormuzd dem
Ariman entgegensteht; sie vermuthet einen
beständigen Kampf dieser beiden activen
Principien, wie zwischen Lucifer und den
Eloim um die Seelen der Menschen; sie
vergisst, dass das Hässliche kein Princip
ist, sondern das Nichtsichtbarsein des
Princips; es ist das Nichts, die Finsternis,
welche nicht ist, sondern nur unser zeit-
weiliges Nichtgewahrwerden des Lichts be-
zeichnet, es ist der Abgrund zwischen
den Höhen
, der nicht klaffte, wären die
Höhen nicht. Es ist das Absurde, das Sein
des Nichtseins, eine Fiction, doch eine von
suggestiver Kraft. Alles, was man dem
Teufel gibt, nimmt man Gott (unter Voraus-
setzung jener Fiction): so hat die Gothik
einen grossen Theil menschlicher Lebens-
äusserung dem Fürsten der Finsternis unter-
stellt und mit der Nacht des Bösen über-
schattet; in gleicher Weise haben wir fast
alle Thätigkeit mit dem Fluch der Häss-
lichkeit gelähmt. Wir wollten die Schön-
heit und die Kunst — ihren absichtlichen
Ausdruck — von dem Leben geschieden
wissen; wir haben ihr getrennte Räume
angewiesen, wo sie sorgsam von eigenen
Priestern gehütet wird. Wenn wir den

* Walter Pater, The Renaissance, studies in art and poetry, III.

** In den Mysterien der griechischen Tempel ist das Symbol der Trinität göttlicher
und menschlicher Natur ebenso geläufig wie in der christlichen Lehre.

*** Vgl. den Abschnitt über den Teufel bei Eliphas Levi, Dogme et Rituel de haute magie.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 16, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0016.html)