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Ansprüchen genügt haben, welche das
Leben an uns stellt, wenden wir uns zu
ihr. Dem einen ist sie ein massvoll ge-
nossenes Vergnügen, dem andern eine
Phiole voll betäubenden Saftes, die er in
kranker Sehnsucht umklammert; nur ein-
zelnen, deren Stirn die Sonne Joniens
geküsst, ist sie das Leben selbst; nur
einzelnen erblühen die Werke der Kunst
fast unter ihren Tritten, so wie von un-
gefähr ein Veilchen in den Laubgängen
eines Gartens ersprosst. Der andere ruhet
indes auf seinem Krankenbett zwischen
Kranken und sieht durch das Fenster, wie
sich draussen die Wipfel bewegen, und
er ruft, dass man ihm ein Veilchen an
sein Lager bringe; athmet er aber den
Duft und badet sein Blick in der tiefen
Bläue des Kelches, dann frohlockt er heftiger,
als es dem einfachen Veilchen gebürt und
sein Auge haftet allzubrünstig auf der
Creatur. Die allermeisten kennen auch diese
Sehnsucht nicht; sie sind die absolut
Hässlichen, jene eigensten Kinder unserer
Zeit, die gebeugt von freudloser Arbeit
eine unausgesprochene — und wie man
glauben möchte, unaussprechliche—Schuld
abzubüssen scheinen; weil ihre Pein so
zwecklos, ihr Leiden so unübersehbar und
hoffnungslos und ihnen kaum bewusst ist,
sind sie so absolut hässlich und so qual-
voll anzuschauen für den Künstler; diese
sind es, welche lärmen, wenn wir lauschen
wollen; die sich vor uns drängen, wenn
wir schauen möchten; diese sind es,
welche uns die Schönheit als ein Jen-
seits empfinden lassen, zu dem wir nichts
als die bleiche gothische Sehnsucht haben,
»das Gebet, in welchem man um nichts
bittet«.*
Ich will eine Stelle Ralph Waldo Emer-
sons folgen lassen, die ich aus dem zwölften
seiner Essays übersetze: »Aber der Künstler
und der Liebhaber suchen heute in der
Kunst die Hervorhebung ihres Talents oder
eine Zuflucht von den Übeln des Lebens.
Die Menschen sind nicht recht zufrieden
mit dem Bild ihrer eigenen Einbildungs-
kraft und sie fliehen zur Kunst und über-
tragen ihren bessern Sinn in ein Oratorium,
eine Statue oder ein Bild. Die Kunst be-
wirkt dasselbe wie ein sinnliches Vergnügen,
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nämlich die Loslösung des Schönen von
dem Nützlichen und nach einer hastigen
Erfüllung der unvermeidlichen Arbeit den
Übergang zu der Unterhaltung. Solche
Tröstung und Belohnung, diese Trennung
der Schönheit vom Nutzen erlauben die
Naturgesetze nicht. Sobald Schönheit nicht
in Andacht und Liebe, sondern zum Ver-
gnügen gesucht wird, macht sie den Sucher
schlechter. Die hohe Schönheit ist ihm
nicht länger erreichbar, weder auf der
Leinwand noch in Stein, weder im Klang
noch in lyrischer Schöpfung; eine effe-
minierte, vorsichtige, krankhafte Schönheit,
welche keine Schönheit ist, ist alles, was
erstehen kann; denn die Hand kann nie-
mals etwas Höheres ausführen, als der
Charakter eingeben kann.
Die Kunst, welche so scheidet, ist selbst
zuerst geschieden. Die Kunst soll kein
oberflächliches Talent sein, sondern muss
weit tiefer anheben in den Menschen.
Heute sehen die Menschen die Natur nicht
schön, und da gehen sie hin, eine Statue
zu fertigen, dass sie es sei. Sie schrecken
vor den Menschen als geschmacklosen,
unbekehrbaren Dummköpfen zurück und
trösten sich mit Farbentuben und Marmor-
blöcken. Sie verwerfen das Leben als
prosaisch und schaffen einen Tod, welchen
sie Poesie nennen. Sie thuen des Tages
lästige Pflichten ab, um zu wollüstigen
Träumereien zu eilen. Sie essen und trinken,
um nachher dem Ideale dienen zu können.
So wird die Kunst erniedrigt, das Wort
überlässt dem Verstand seinen schlechten
Nebensinn; es lebt in der Vorstellung,
wie etwas der Natur Entgegengesetztes und
von dieser mit dem Todesstreich Getroffenes.
Wäre es nicht besser, höher oben zu be-
ginnen — dem Ideal zu dienen, ehe man
isst und trinkt, dem Ideal zu dienen, indem
man isst und trinkt, indem man athmet,
indem man lebt? Die Schönheit muss zu den
Werken der Nützlichkeit zurückkehren.
Der Unterschied zwischen schönen und
nützlichen Künsten muss vergessen werden.
Würde Geschichte wahr erzählt und das
Leben edel verbracht, so würde es bald
nicht mehr leicht möglich sein, dieses von
jener zu trennen. In der Natur ist alles
nützlich, alles schön. Es ist darum schön,
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