Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 20

Hellenismus und Gothik (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 20

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SCHMITZ: HELLENISMUS UND GOTHIK.

schwer sein, auf die niederen Schichten
zu wirken. Aber nichts wird heute in dem
monarchischen Deutschland mehr gehasst
als die Idee einer Hierarchie. Der Socialis-
mus ist bereits auf das geistige Leben
übertragen worden und man sucht durch
»allgemeine Bildung« aller, die nicht anders
als oberflächlich sein kann und das
Zwillingspaar Dilettantismus und Arroganz
erzeugt, der Bildung grosser geistiger
Vermögen entgegenzuarbeiten. Diejenigen,
welche Wissen in Leben umzugestalten
vermögen, sind sehr dünn gesäet und
ich sehe den Grund nicht ein, warum die
andern überhaupt etwas zu wissen brauchen.
Indem man die scheinbare Ungerechtigkeit
der Natur auszugleichen versucht, verstärkt
man dieselbe; man lässt die, welche von
den Vortheilen der Bildung ausgeschlossen
sind, dennoch die Nachtheile davon haben,
denn jenen ist Wissen nichts anderes als
eine Last, die ihre Rücken noch krummer
macht, als sie von Natur sind. Oder wird
ein unfruchtbares Weib wünschen, da sie
keine lebenden Kinder gebären kann, dann
doch wenigstens todte zur Welt bringen zu
dürfen? Man sollte von dem Durchschnitts-
menschen nichts, als die Fähigkeit zu
seinem Berufe verlangen, ihm aber
durch öffentliche Bildungsanstalten die
Möglichkeit geben, leicht das freiwillig zu
erlernen, was vielleicht in ihm lebendig
werden kann und was nur seine eigene
Liebhaberei zu finden vermag; man soll
ebenso wenig von einem für Naturwissen-
schaften Begabten Humanistica fordern,
wie man ein Perlhuhn züchtigen würde,
weil es keine Strausseneier legt. Diese
Einseitigkeit würde zu einer Ökonomie
der intellectuellen Kräfte führen; zugleich
würden die humanistischen Bildungs-An-
stalten von ihrer Zufuhr an künftigen
Krämern befreit. Geben wir vor allem
dem ganzen Volk das Schauspiel
einer hochcultivierten Classe
.
In England sind jene wahrhaft gebildeten,
complexen Renaissancenaturen im Stile
William Morris’ niemals ganz ausgestorben.
Die »allgemeine Bildung«, die nichts als
ein Feigenblatt ist — und dazu eins von
Blech — macht unverschämt und sucht
den wirklich Wissenden mit Geschrei von

Schlagwörtern zu übertönen. Ich habe viele
»allgemein« Gebildete im Verkehr mit dem
italienischen Volk gesehen, welches Casa-
nova »die geistreichste, obgleich die un-
wissendste Nation der Welt« nennt*, und
das in seiner allgemeinen Cultur für uns
noch am deutlichsten das Griechenthum
darstellt — und habe beobachtet, wie jene
Menschen, die — wie mir Kundige ver-
sichern — »bald aus der Reihe der
Grossmächte auszuscheiden haben«, dem
von Wissen beschwerten Durchschnitts-
deutschen überlegen sind. Jener verstrickt
sich fortwährend in dem, was er für Zügel
hält, was aber für ihn Fesseln sind, da er
sie nicht zu handhaben versteht. Er fühlt
sich von dem Auge des Freieren in der
Unechtheit seines Inhalts durchschaut und
zupft in wüthender Verlegenheit beständig
sein Feigenblatt zurecht, welches ihm jeder
Strassenjunge wegzureissen im Stande ist.
Der Hass so vieler Reisenden gegen die
südlichen Völker entstammt aus dem Gefühl,
dass ihre eigene Nichtigkeit auf Schritt und
Tritt durchschaut wird und zwar von
Menschen, welche sie sich unterlegen
glaubten, die aber über eine Ritterlichkeit,
Generosität, Menschenkenntnis, ästhetische
Empfänglichkeit und Galanterie verfügen,
die ihrer künstlich gestützten, täppischen
Gravität fremd ist. Die Art, wie jemand
von Südländern geschätzt wird, besonders
von den Ungebildeten und den Frauen —
ist häufig eine Probe seiner Echtheit

Es entgeht mir nicht, dass das letzte
Glühen des Griechenthums in der italieni-
schen Seele immer mehr verblasst und dass
unser Volk allein die Kraft besitzt, den
allzureichen Segen zu ertragen, den die
politische Drillingsgeburt des italienischen
Königreichs, der französischen Republik
und des deutschen Kaiserthums dem
modernen Europa gebracht hat. Wir haben
vielleicht heute die meisten culturfähigen
Persönlichkeiten neben der allgemeinen
Uncultur, aber erst, wenn sie sich als
Classe dem unseligen deutschen Hang zur
Sectiererei entgegenstellen, statt ihn mit
dem modernen Kosewort Individualismus
zu ermuthigen, kann ihr Handeln und
Denken culturfördernd werden. Es scheint,
dass jede Renaissance die Erfüllung

* Mémoires de J. Casanova de Seingalt, écrits par lui-même. Tome VIII.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 20, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0020.html)