Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 23

Burgtheater: »Die Jungfrau von Orleans« Raimund-Theater: »Das Riesenspielzeug« Carltheater: »Eine guter Partie« (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 23

Text

THEATER.

die Allüren der Wander-Directoren. Er
begründete die Zutheilung der Johanna-
Rolle an das sentimentale Fräulein Medelsky
etwa so, als wenn er seine Befähigung
zum Burgtheaterdirector auf den Aus-
spruch Julius Cäsars stützte: »Lasst Dicke
um mich sein.« Wie kann es einem Leiter
dieses sinkenden Schiffes bei der gegen-
wärtigen Situation einfallen, sich mit Baga-
tellen zu beschäftigen: ob die Johanna
d’Arc mehr ein mädchenhaft kindisches
oder heroisches Wesen haben soll? Jetzt,
wo die gesammtdarstellerischen Funda-
mente wackeln, wo von unten auf zu
bauen angefangen werden müsste, zerbricht
er sich den Kopf um Giebelzieraten!
Jetzt, wo alle Schauspieler dieses Theaters
in ohrenbetäubender Weise ihre Rollen
herunterbrüllen, soll Johanna auf einmal
allein lispeln! Fräulein Medelsky gab die
Jungfrau von Orleans als blutarme, deutsche
Beamtenstochter. So spielt man Fulda’sche
Puppen, aber keine durch mystische Erleuch-
tung zu Thaten begeisterte Französin.
Was nützt die physische Jugend dieser Schau-
spielerin, wenn sie fortwährend Töne an unser
Ohr klingen lässt, die wir schon vor 25 Jahren
bei Schülerinnen Alexander Strakosch’s ge-
hört haben? Wir wollen keine antiquierte
Kunst, auch nicht in jungen Schläuchen.
Fräulein Medelsky machte den bejammerns-
werten Eindruck eines Akrobatenkindes,
das schwere Gewichte zu heben hat. Das
Publicum war voll Theilnahme, wie man
sie bei Krankenbesuchen hegt. Mitleid
müsste man auch mit der alten Garde
des Burgtheaters haben. Niemand stand
auf richtigem Posten. Herr Schlenther
theilt die Rollen nicht zu, sondern aufs
Gerathewohl aus. Er hat nicht mit eigenen
Augen die Vergangenheit unserer alten
Mimen miterlebt. Auch Burckhard wusste
nichts davon, weil er vor seiner Directions-
zeit das Burgtheater nur vom Hörensagen
kannte. So kommt es, dass durch eine
achtjährige Misswirtschaft Künstler von
Namen in ihrer organischen Entwicklung
gestört wurden und nun einen kläglichen
Eindruck machen. Zu alldem gesellt sich
eine Circusregie. Nach dieser Aufführung
der »Jungfrau von Orleans« werden die
Zuschauer eine schlechte Nacht gehabt
haben. Vielleicht hat auch mancher ge-
träumt, Schiller habe sich aus Verzweiflung

von seinem Postament auf den Schiller-
platz gestürzt. —i— .

Raimund-Theater. »Das Riesen-
spielzeug
.« Volksstück in 4 Acten von
Carl v. Carro, bearbeitet von C. Karl-
weis
. Ein Erfolg, der insbesonders auf
Provinzbühnen ein nachhaltiger sein dürfte.
Den dilettantisch gerathenen ersten Scenen
des Stückes hat Karlweis gelungene heitere
Scenen gegenübergestellt mit einer Selbst-
losigkeit, als ob es sich um eine eigene
Arbeit handeln würde. Karlweis hat freilich
die Tendenz des Stückes, die Selbstsucht
der Reichen zu geisseln, durch seine
persönliche Selbstlosigkeit glänzend wider-
legt. Dieses witzige interne Motiv mag ihn
vielleicht unbewusst zur Bearbeitung gereizt
haben. Die Darstellung war eine ange-
messene. Herr Thaller, der neuengagierte
Charakterkomiker des Raimund-Theaters,
ist zwar kein schöpferisches Talent, aber
ein sehr routinierter, discreter Schauspieler.
Lobend zu erwähnen sind noch Fräulein
Niese und Herr Burg.

Carltheater. »Eine gute Partie«
von Victor Léon und Paul v. Schönthan.
Eine neue Saison kann nicht gut beginnen,
ohne dass Herr Léon seinen Durchfall
beisteuerte. Der vorliegende wird durch
den neuen Gesellschafter, mit dem sich
unser fruchtbarer Autor zusammengethan
hat, übermässig compliciert. Herr von
Schönthan, als Bruder des Schwank-
dichters Franz v. Schönthan nicht mehr
unbekannt, verräth zu wenig Geschick
im Nachschlagen älterer Bände der
»Fliegenden Blätter«, als dass er Aus-
sicht hätte, Herrn Léon auch weiterhin
auf seinem Durchfallswege zu begleiten.
»Die gute Partie« führt uns wieder in
jenes bekannte kleinbürgerlich-wienerische
Milieu, an dem Herr Léon, seit er einmal
mit ein paar Einfällen von L’Arronge Glück
gehabt hat, zum »Zeitbildner« empor-
gediehen ist. Man darf nun beileibe nicht
befürchten, dass Herr Léon plötzlich
etwa in Ibsen’sche Bahnen einzulenken
beginnt. Er zehrt noch an O. F. Berg.
Ob aber das Carltheater, das sich als
neues Schauspielhaus zu etablieren ge-
dachte und mit ernst-modernen Be-
strebungen gewaltig gross that, mit Herrn
Léon als Oberregisseur sein Auskommen
wird finden können, bleibe dahingestellt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 23, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0023.html)