Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 48

Die heilige Gudula »Fuhrmann Henschel« (Levetzow, Freiherr Carl vonHeimann, Moritz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 48

Text

HEIMANN: »FUHRMANN HENSCHEL«.

sich ein Artillerist aus der nahen Kaserne
dort hinsetzt, so muss das so sein; und
wenn er dann zu ihr spricht, so wird sie
ihm antworten, voll heiliger Güte, und
dann wird er weitergehen wollen, mit ihr;
das muss dann so sein. Sie hat keinen
Wunsch, sie hat keine Furcht; ihre heilige
Güte kennt keine Auflehnung, ihr heiliger
Mund kein schmerzendes »Nein«, ihre
harte, heilige Hand kennt keine verletzende
Abwehr In einer Stunde wird sie
wieder das Bier zur Herrschaft tragen,
und wird wieder Zorn und Ärger über
sich ergehen lassen, Stiegen auf und ab
hasten, fraglos, ohne Murren. Dann wird
sie müde und lebensergeben zu Bett gehen,
und morgen wieder einen Arbeitstag be-
ginnen, alles verzeih’n, was nicht anders
sein kann — und abends wird sie wieder
auf der grünen Bank rasten.

Das ist die Legende von der heiligen
Gudula, die das Bild mir erzählt. Die
Legende vom heiligsten Weib; von heiligen
Mädchen im dämmernden Garten, von der
heiligen Schutzpatronin ihres ärmlichen
Gnadenstandes. Denn jeder Stand ist ein
Gnadenstand und hat seine Heiligen, und
jede Zeit hat ihre Heiligen. Heilige leben
in allen Ständen in allen Gedankenzeichen,
in allen Ländern und Zeiten.

Unsere Heiligen schweben nicht zu
den Wolken auf, sie strahlen nicht in ver-
klärten Gewändern, sie steigen nicht von
fernen Himmeln herab: sie wandeln unter
uns, nicht in stolzen »Tugenden«, nur
in ihrer grossen, grossen Güte, die
kein herbes »Nein« kennt. Sie wandeln
unter uns, auf unserer heiligen Erde,
— aber die meisten Menschen sehen sie
nicht.


»FUHRMANN HENSCHEL«.
SCHAUSPIEL VON GERHART HAUPTMANN.
Von MORITZ HEIMANN (Berlin).

Wenn jetzt ein neues Werk von Haupt-
mann erscheint, so kann man die Beob-
achtung machen, dass die Kritik, verleitet
und verwirrt durch seine jedesmalige princi-
pielle Selbständigkeit, sich eilig voreilig
bemüht, den Entwicklungsgang des Dichters
in ein mit dreister Subjectivität festge-
stelltes Schema zu zwängen. Der Unbe-
fangene kann nicht zweifeln, dass dieses
Unterfangen tadelnswert ist, denn es fehlt
ihm die Grundlage des sicheren Wissens.
Divination aber ist nicht die Sache dieser
Kritik, an ihr ist nichts göttlich, es sei
denn die Anmassung. Nun soll keineswegs
dem Kritiker die Pflicht zu wissen auf-
erlegt worden; über einen Mitlebenden
genaue Kenntnis zu haben, ist ein Ge-
schenk des Zufalls. Auch ist es schliesslich
kein nützliches Beginnen, der Zukunft eine
Aufgabe vorwegzunehmen, die nämlich,
Vergangenes zu registrieren; der Gegen-
wart sehen und leidenschaftlich sein;
die Historie eines Lebens ist nicht sein
Inhalt, sondern das Gefäss seines Inhalts.
Man brauchte die plumpen Muthmassun-

gen, mit Hilfe derer sich die Kritik
ihrer feinsten Pflicht entzieht, nicht zu
beachten, wenn sie nicht benutzt würden,
das Urtheil selber zu gestalten. Der Irrthum
hört auf unschuldig zu sein, weil er dazu
helfen muss, die Talentlosigkeit zu ver-
stecken, die nicht drei Feuilletonspalten
mit einer sachlichen Darlegung zu füllen im-
stande ist. Das ist im Grunde die Rechnung:
der Kritiker weiss nichts zu sagen, darum
muss er combinieren; er ahnt vielleicht,
dass combinieren irren bedeuten kann, aber
er fühlt nicht, dass es schwindeln heisst.
Und nur darum, weil Combination, Irrthum
und Lug das Urtheil fälschen, sei aus
zufälligem, verdienstlosen Wissen heraus
einiges über die Stellung mitgetheilt, die
der »Fuhrmann Henschel« in der Reihe
der Arbeiten Hauptmanns einnimmt,

Es trifft nicht zu, was viele glauben, dass
»die versunkene Glocke« eine Episode inner-
halb von Hauptmanns eigentlichem Schaffen
bedeutet. Noch bevor der »Florian Geyer«
erschienen war, existierten Theile eines
Dramas »Helios«, das, an einem mystischen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 48, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0048.html)