Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 79

Hof-Operntheater: »Donna Diana« Zwei Novellen von Kjelland »Freie Bühne« (Graf, Dr. MaxLevetzow, Freiherr Carl von)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 79

Text

RUNDSCHAU.

innersten Organisation nach niemals wahre
Beziehungen haben können. Dagegen führe
man ihnen »Carmen«, »Manon«, »Die
Fledermaus«, »Die lustigen Weiber« etc.
zu: jene journalistischen Werke, in welchen
der mittelmässige Geist sein nächst höheres
Entwicklungsstadium erreicht hat, graziös,
geistreich, beredt, cultiviert geworden ist.
Diese Werke, nicht Beethoven oder Wagner,
sind die Classiker des Philisters, durch
welche er verfeinert und erzogen werden
kann. So empfunden ist auch »Donna
Diana«, wenn auch kein classisches, so
doch ein sehr talentiertes Werk eines
musikalischen Journalisten Der künst-
lerische Geist ist der Todfeind des Jour-
nalismus. Wo dieser sich mit Blüten
begnügt, steigt jener zu den Wurzeln
jedes Dings und jedes Empfindens hinab.
Dieser spielt mit Form, Licht, Farbe,
dieser dringt zu den Urkräften, den heiligen
Geistern jedes Seins vor. Der journalistische
Kopf rechtfertigt stets die Gegenwart, ist
conservativ, mit der Actualität verwachsen;
der künstlerische rechtfertigt stets die
Zukunft, als Revolutionär und unzeit-
genössischer Betrachter. Und wenn ein
künstlerischer Geist eine Oper wie »Donna
Diana« eine »journalistische« nennt, so
liegen darin aller Ekel, alle Galle, alle
Hassgefühle gegen jede Form von Banalität,

selbst die höchst cultivierte und höchst ver-
feinerte. Dr. Max Graf.

»Freie Bühne«. Ein spassiger jour-
nalistischer Einfall war es, den man sich
dieser Tage geleistet hat, den sonst von
literarischer Seite gemiedenen Herrn
Schlenther zu interviewen. Er soll ausser
Coulissenklatsch auch die Versicherung
zum Besten gegeben haben, dass er eine
in Wien zu errichtende »Freie Bühne«
mit seiner ganzen Kraft zu unterstützen
gedenke. Wir wollen hier Verwahrung da-
gegen einlegen, dass die von unserem
Blatte propagierte Idee der Schaffung einer
solchen Institution von Herrn Schlenther
etwas zu erhoffen oder zu wünschen hätte.
Vielmehr hat der von ihm verschuldete
Abgang der Sandrock, die einzige Wiener
Kraft, an die man bei Schaffung eines
derartigen Unternehmens denken konnte,
die Activierung einer »Freien Bühne« in
Wien hinausgeschoben. Herr Schlenther
scheint in dem Wahne zu sein, dass die
von der Wiener »Freien Bühne« zu ver-
folgenden künstlerischen Interessen als von
ihm unterstützbar sich erweisen würden.
Und noch eins. Wie stellt es sich Herr
Schlenther vor, die ihm nun zum Lebens-
bedürfnis gewordene servile Unfreiheit mit
einer »Freien Bühne« in Einklang zu
bringen?


RUNDSCHAU.

Zwei Novellen — Treuherz, Karen
— von Alexander L. Kjelland, aus dem
Norwegischen übersetzt von Dr. Leo Bloch,
Berlin, Verlagsgesellschaft Harmonie. —
»Weil Kürze denn etc«, das wusste
schon Shakespeare, und das wissen alle
grossen Künstler oder sie kommen doch
darauf. Aber leider wird es immer wieder
vergessen; und so vieles an den Grossen
nachgeahmt wird, zu einem können sich
die Epigonen niemals aufschwingen: zu
ihrer Kürze. O wehe über die Lang-
athmigen, wieviel Athemlosigkeit haben
sie uns schon gekostet; wehe über die
Allzuausführlichen, wieviel gute Stunden,
wieviel gute Stimmung haben sie uns
schon ausgeführt und nie mehr wieder

gebracht! — Kjelland ist ein Vollkünstler.
Da ist kein Wort zu wenig, aber auch
nicht eine Silbe zu viel. Die Nothwendig-
keit spürt man überall. Es muss alles so
sein, wie es ist, es kann nichts anders
sein. Nicht einen Satz könnte man weg-
nehmen oder hinzufügen. Das ist letzte
höchste Kunst. — Man hat ihm Tendenz
vorgeworfen, aber Kjelland ist kein
Tendenzschriftsteller. Absolut nicht. Und
überhaupt Tendenz! Inwieweit ist denn
»Tendenz« mit »Kunstwerk« unvereinbar?
Die Kunst ist nicht farblos, lebensfern
und lebensfeindlich. Im Gegentheil: das
Kunstwerk ist ja der Ausfluss potenzierter
Lebensthätigkeit, also ist es auch nicht
viel ferner von der Tendenz als das Leben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 79, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0079.html)