Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 128

Graphologie Hof-Operntheater: Richard Wagner (Poppée, DolphineGraf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 128

Text

MUSIK.

seiner Kraft und Schwäche, leichten Be-
weglichkeit oder Schwerfälligkeit, welches
dem Werke unserer Hand auch den
Stempel unserer geistigen Persönlichkeit
aufdrückt und der Schrift das verleiht,
was man ihren Charakter nennt. Ebenso
wie der Musiker nicht bloss mit den
Fingerspitzen spielt, sondern einen Theil
seines geistigen Ichs in dieselben verlegt,
so dass man mit Recht von einem seelen-
vollen Spiele sprechen kann, ebenso lassen
auch die Schriftzüge etwas von dem
geistigen Zustande des Schreibenden er-
kennen. Den deutlichsten Beweis für den
innigen Zusammenhang zwischen Geist
und Schrift liefert uns die Thatsache,

dass bei geistigen Erkrankungen auch
eine Veränderung der Schrift eintritt, dass
mit zunehmendem Irrsinn auch die Schrift
immer formloser wird. Lenau schrieb vor
der Zerrüttung seines Geistes zierlich und
fast kalligraphisch, nachher wurde seine
Schrift immer zerrissener. Zwei Irrenärzte,
Dr. Albrecht Erlenmayer in Bendorf und
Dr. Friedrich Scholz, Director der Kranken-
und Irrenanstalt in Bremen, haben in treff-
lichen Werken ihre Beobachtungen über
die durch Veränderungen im Gehin er-
folgten Veränderungen der Handschrift
dargelegt und ganz genaue Angaben über
die verschiedenen Formen der patho-
logischen Schrift gemacht.«*

* Siehe W. Kronsteins Broschüre, Dresden, Verlag Dietze.


MUSIK.

Innerhalb dreier Wochen hat das Hof-
operntheater sämmtliche grossen Haupt-
werke Richard Wagners aufgeführt:
»Die Meistersinger von Nürnberg«,
»Tristan und Isolde« und den »Ring
des Nibelungen
«. Mit einer unerhörten
Energie, mit dem stärksten künstlerischen
Ernste, mit leidenschaftlicher Begeisterung
ist an der Bewältigung dieser grössten
Kunstaufgaben eines modernen Opern-
hauses gearbeitet worden. Dafür ge-
bürt vor allem Director Gustav Mahler
der Dank aller künstlerisch empfin-
denden Kreise. Mahler gehört jener
Reihe von Männern an, welche (wie z. B.
Hofrath Skala) ihre ganze Kraft daran-
setzen, aus der Beschränktheit des Wiener
Kunstklatsches den Anschluss an die euro-
päischen Kunstinteressen zu gewinnen. Sie
sind innerlich tiefste Feinde des soge-
nannten wienerischen Geistes. Die künst-
lerische Erzieherarbeit, welche Director
Mahler im Opernhaus leistet, ist ihrem
Werte nach noch nicht abzuschätzen. Er
geht stets auf das Wesentliche, den Kern
der Sache mit rücksichtslosem Fanatismus
los. Persönliche Interessen, althergebrachte
Bequemlichkeiten, Geistesträgheiten werden
kurzweg tyrannisiert. Sänger, Musiker,
Journalisten, hohe Persönlichkeiten, Publi-
cum werden zum Dienste der grossen

Kunst gezwungen. Wer widerstrebt, wird
energisch brüskiert. Gilt es ein Kunstwerk
fein herauszubringen, so wirft Mahler seine
ganze Autorität, selbst seine persönliche
Stellung in die Wagschale. Ein solcher Mann
ist für eine Stadt wie Wien, eine Stadt, in
welcher jede Bequemlichkeit, jede Trägheit,
jede Indolenz zu Hause ist, »den Falstaff
der deutschen Städte, das alte dicke Wien«
— so hat Bauernfeld einst gesungen —
ein bewundernswerter künstlerischer Er-
zieher. Mit vollstem Rechte werden von
Mahler die grossen Werke Richard Wagners
in die Mitte des Repertoire gesetzt — als
die Schöpfungen neuen geistigen Erlebens,
neuer seelischer Energien, neuer Potenzen
des Empfindens, als unerschöpflicher Kraft-
quellen des modernen Geistes. Ihnen werden
die vollkommensten Aufführungen gewidmet,
um sie den Hörern in stärkster Intensität
aufzuzwingen Von den Künstlern
sind in erster Linie Frau Sedlmair und
Frl. v. Mildenburg als Beispiel evollstän-
diger Hingabe an die grossen künstlerischen
Aufgaben, welche von Wagner an sie
gestellt werden, zu nennen. Diese, ein
stark decoratives Talent, unbändig, jäh
und eruptiv; jene, eine Künstlerin von
stärkster innerer Kraft und Leidenschaft,
jedem Kunstfreunde als beste Darstellerin
der Isolde theuer. m. g.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Constantin Christomanos.
K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 128, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0128.html)