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»Genialische, edle, divinatorische, wun-
derthätige, kluge und dumme u. s. w.
Pflanzen, Thiere, Steine, Elemente u. s. w.
— Unendliche Individualität dieser Wesen
— ihr musikalischer und Individualsinn —
ihr Charakter — ihre Neigungen u. s. w.
Es sind vergangene geschichtliche Wesen«.
Er blätterte in den Aphorismen des
Novalis.
Im Rollstuhl hatte er sich hinausfahren
lassen auf die Veranda, den milden Früh-
lingstag und die Düfte zu geniessen, die
vom Garten herüberwehten.
Nun war er wieder bei der Mutter,
und die beste Frucht eines heissen und
wirren Strebens nach innerer Selbstge-
staltung war, dass er schliesslich bei ihr
in Ruhe und Resignation sterben durfte.
Lächeln musste er, als er im Frieden
dieses stillen Frühlingstages dachte, dass
er, was er auch immer für Vorstellungen
von Selbstvollendung gehabt, in einem
gewissen Sinne — vielleicht im besten —
ein Fertiger und Vollendeter sei. Denn,
was ihn mit all seinen Schiffbrüchen ver-
söhnen durfte, war, dass er nun doch als
ein Bejahender vom Leben Abschied
nehmen konnte. Wenn auch in einem
anderen Sinne, als er’s angestrebt, war er
nun doch Herr seines Lebens geworden
und trug seinen Siegespreis davon. Und
das war die Hauptsache. — Gewiss, er
war so fertig wie möglich: aber was ist
alles Lebens Ziel und Sinn, was seine
innerste Tragik, Sehnsucht und ewig trei-
bende Lust, als mit sich fertig zu werden?
Und wieder wandte er seine Blicke
auf die merkwürdige Stelle, die er eben
gelesen hatte und gab sich der ganzen
Wonne dieses wundersamen Weitblickes
hin, den sie eröffnete.
Wie ein musikalisches Thema war sie
zu einer grossen monistischen Symphonie,
das sich in ihm unendlich zu differenzieren
und auszuspinnen begann. Wie ein
Schaukeln war es auf sonnig plätschernden
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Meerfluten, blaue Unendlichkeiten über
einen gespannt, ein fröhliches sieghaftes
Schaukeln über grausigen Abgründen; ein
wonniges starkes Spiel mit dem uralten
Chaos der untersten Seelengründe, die
purpurn hinabverdämmern in das Getriebe
der mütterlichen Elemente. Der mensch-
liche Geist, der sich die Welt erobert hat
und zu dem Bewusstsein seiner All-Einheit
vorgedrungen ist
»Le ciel est, par-dessus le toit
Si bleu, si calme!
Un arbre, par-dessus le toit
Berce sa palme.«
Das schöne Gedicht Verlaines fiel
ihm ein.
Neben ihm, auf einem lichtgelben
japanischen Rohrtischchen, stand eine
prächtige rothe Hyacinthe. Ihr süsser Duft
schmeichelte ihn in einen köstlichen Rausch.
Er verlor sich in den Anblick dieser fein
geschweiften Blütenglöckchen und ihrer
zarten Färbung. Und dieses veilchenblaue
Räuchlein, das sich drüben vom Schorn-
stein in den klaren Himmel hineinkräuselte!
Das Blütengewölk der Gärten; das Singen
der Vögel in der leuchtenden, duftenden
Stille
Über die Brüstung der Veranda ge-
beugt, die Arme mitten zwischen einer
Fülle blauer, japanischer Hopfenblüten,
träumte er in einer wonnigen Betäubung
vor sich hin.
Leid- und lustfrei, wunschlos erlöst
in die nothwendige Gelassenheit alles
Geschehens hinüberzugehen und in seinen
Kreislauf sich aufzulösen, das war ihm
nun bestimmt.
Leben, Leben, nichts als Leben!
Alles ist Leben!
In den unaussprechlichen Frieden
dieser Stimmung aber brach plötzlich hart
und brutal der Schall der eisernen Gitter-
thür, die von einer kräftigen Hand zu-
geschlagen wurde.
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