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Ein junges Mädchen in einem jagdrock-
artigen Paletot von feinem carmoisinfarbenen
Herrentuch—vor einem der kleinen Marmor-
tische des Cafe »zur todten Ratte«. — Mont-
martre. Zwölfte Abendstunde.
Die Theater haben sich geleert. Die
lange, hügelige Strasse hinauf, die den
Zigeuner-Stadttheil mit dem Herzen des
eigentlichen Paris verbindet, kommen
Scharen Vergnügungssüchtiger, harmlos
und weniger harmlos Bummelnder, die
vor dem Nachhausegehen die Nachtcafés
aufsuchen.
»Guten Abend, Kleine.«
»Guten Abend, meine Herren.«
Die »Kleine« in dem rothen Jagdrock
rückt erwartungsvoll an ihrem Marmor-
tische vor. Ihr blasses, längliches Gassen-
bubengesichtchen unter dem kastanien-
braunen Nonnenscheitel bemüht sich, recht
verführerisch zu lächeln.
»Nicht Platz nehmen, meine Herren?
Marguérite trinkt sehr gern ein Glas Bock.«
»Ein andermal, kleine Freundin. Heut
nicht.«
Und sie, die sie angerufen hat, nehmen
am Tische einer ihrer Colleginnen Platz,
eines üppigen Mädchens in Balltoilette,
mit dem sich die magere, kleine Marguérite
freilich nicht messen kann.
Sie zürnt darum nicht; der Concurrenz-
neid hier droben, in der »todten Ratte«,
wüthet in seiner sich bis zu Handgreif-
lichkeiten auswachsenden Leidenschaft nur
unter den geharnischten Vertreterinnen des
älteren weiblichen Stammpublicums. Die
»Kleinen«, »Neuen«, »Grünen«, die noch
zu lernen haben — jene Mädelchen von
fünfzehn und sechzehn Jahren, die irgend
eine Kupplerhand in die Carrière hinein-
gestossen — sind bescheiden und devot.
Sie wissen, dass sie noch nicht viel »zu
bedeuten« haben. Und sie trösten sich
mit jenem Theil des Publicums, der aus
verständlichen Rücksichten zu ihnen hält:
den Schülern der Akademien, den Stu-
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dentchen im ersten Semester, oder den
eisgrauen, langbärtigen, saloppen alten
Herren, die einen Theil der Künstler-
einwohnerschaft von Montmartre bilden,
und deren schäbige Sammetjoppe, abge-
rissener Schlapphut den Spott der an-
spruchsvolleren Damen von der »todten
Ratte« erregt.
»Kaufen Sie Nüsse, Madame, nur ein
halbes Schock! Nur drei Sous das halbe
Schock!« Der Knabe, der diese Worte
ausruft, mit seiner einschmeichelnden,
beschwörenden kleinen Banditenstimme,
rührt Marguéritens Herz. Sie greift in die
Tasche des rothen Paletot. — Nur noch
zwei Sous vorhanden! Aber Frédéric wird
borgen. Und rasch erhebt sie sich und tritt
zum Garçon, der mit seinem schmutzigen
Lappen die Platten der Marmortische ab-
wischt. »Sei liebenswürdig, mein Freund,
borge mir fünfzig Centimes. Mein Wort,
Du erhältst sie noch heute Nacht zurück.
Ich habe so Appetit!« Und schmeichelnd
streichelt sie ihm über den Brustlatz
seiner weissen Schürze. Er, der Vertraute
aller dieser Damen, der Gelddarleiher,
Geschäftsvermittler und zuweilen, wenn
die Polizei einschreitet, auch Rechts-
beistand, zuckt nur ungnädig die Achseln.
Diese kleinen Dinger, ewig wollen sie
Geld und nie haben sie welches. »Schreibe
mir auf, dass Du Dich verpflichtest, es
mir zurückzuzahlen, bis spätestens um
drei Uhr.« Er reisst einen Zettel aus
seinem Block und reicht ihn ihr. Und mit
ihrer ungeschickten, gesperrten Gemeinde-
schulenschrift, die von Fehlern wimmelt,
schreibt die kleine Marguérite: »Ich ver-
pflichte mich, dem Herrn Frédéric Leblanc«
— — — — — Nun erhält sie glücklich
ihre zehn Sous. Sie stürzt dem Knaben
nach, der schon halb auf das Geschäft
verzichtet hat, und nimmt ihm hastig
eine der weissen viereckigen Papierhülsen,
die bis zum Rande mit Nüssen gefüllt
sind, aus dem Korbe. Vor lauter Vergnügen
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