Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 106

Pariser Skizze (Meyer Förster, Elsbeth)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 106

Text

MEYER-FÖRSTER: PARISER SKIZZE.

schenkt sie ihm fünf Sous. Und nun
kehrt sie auf ihren Platz zurück.

Wie geschäftig ihre Zähne und Hände
sind. Die Schalen speit sie weit von sich,
auf das Trottoir. Die kleinen, nicht zu
süssen Nüsse, »monkey-nots«, wie sie
heissen, aus Afrika importiert, sind eine
Delicatesse für die Strassenjugend von
Paris. Zu einem Glas Wasser schmecken
sie göttlich! Und Marguérite nascht und
knuspert und beisst, und trinkt bedächtig,
mit sichtlichem Wohlbehagen, ab und zu
einen Schluck Wasser dazu.

»Heut trinkst Du noch Wasser, Bébé!
Was wirst Du aber morgen trinken?«
fragt mit freundlicher Ironie ein alter, matt
und spöttisch aussehender Herr; nach
seinem weissbestaubten Hut zu schliessen
und dem Modellkasten, den er auf dem
Tische niedersetzt, ein Bildhauer.

»Burgunder, wenn sie mir geben, mein
Herr,« entgegnet die Kleine schlagfertig,
indem sie bereitwillig zur Seite rückt.

»Den kann ich Dir schwerlich ver-
sprechen, mein Kind. — Aber ich werde
Dich modellieren, willst Du? Das ist mehr
wie Burgunder, glaubst Du mir?

»Für Sie vielleicht. Für mich nicht. —
Eure Ateliers sind so kalt, sehen Sie her,
was ich mir dort im Winter geholt habe.«
Sie zieht den Handschuh von ihrer
schmalen, vornehm geformten Hand, und
zeigt ihre stark gerötheten, an den Ge-
lenken etwas geschwollenen Finger. »So
sehen meine Knie, meine Knöchel aus.
Und alles von dieser Art Wein, mein
Herr. Kein Mensch wollte mehr mit mir
zu thun haben. — O nein, ich danke
Ihnen.«

Ein anderes Mädchen tritt heran.

»Willst Du hier den ganzen Abend
sitzen bleiben? Ach so, du bist engagiert« —

»Aber durchaus nicht — bleibe,
Julienne.« Sie schlingt den Arm um die
Hüfte der anderen und zieht sie zu sich
nieder. »Komm, bezahle einen Bock für
mich. Morgen erhältst Du zurück« —

»Ich habe noch nichts. — Aber lass
uns nach La Galette gehn« —

Sie erheben sich, grüssen höflich zu
dem Herrn, der ihnen nachsieht, und
dann ermattet die dunklen, müden Augen
für einen Moment schliesst. Immer
dasselbe, seit dreissig Jahren! Dieser

Frühling auf dem Montmartre, diese
Knospen unter den Füssen der Dahin-
eilenden! Welch eine Luft ist das hier
oben, warm und niederdrückend, und wie
bequem man wird in dieser Atmosphäre —
wie thatenlos! — Er stützt den Arm auf
den Modellkasten und grübelt. Sein dunkles,
von den schwarzen, buschigen Brauen
halb bedecktes Auge sieht in die Ver-
gangenheit zurück. Das war Montmartre,
ja, dreissig Jahre Thatenlosigkeit. Dreissig
Jahre Lunger- und Kaffeehausleben.
»Garçon — bezahlen!« Er begleicht
seinen Absynth, nimmt hastig den Kasten
auf und geht. — In ein anderes Kaffee-
haus. — —

Die beiden Mädchen sind eingetreten
in den Saal von La Galette.

Welch eine Luft, und doch welche
Lust!

Das ist lauter als Bullier, bunter —
mannigfaltiger selbst als das berüchtigte
Moulin rouge! Und graziöser.

Es ist die Tanz- und Schaubühne der
armen Jugend, die sich theils noch ihrer
Dürftigkeit zu freuen vermag. Diese
Mädchen in der bunten Blouse und dem
Ledergürtel mögen leicht sein, aber sie
sind arm! Sie sind hochmüthig gegen
ihr Colleginnen von Montmartre, jene,
die in den rauschenden Seidenroben am
Arme der Cavaliere in La Galette unter-
tauchen, um nach dem Diner ein wenig
»die Füsse zu vertreten.« Sie tanzen ihre
nationalen Tänze mit kindlicher Be-
geisterung, als wahre Kinder des Volkes,
und ihr Übermuth ist unbezahlt und darum
ungekünstelt. Aus dem bunten Wirrwar
von Erscheinungen tauchen einzelne von
ihnen als ganz besondere Species auf,
zu populärer Berühmtheit gelangt bei
fast allen Eingeweihten dieses Ortes. So
Angéline, die »Indianerin«, der ihr Ge-
liebter in einem Anfall von Raserei der Liebe
den Rücken mit der Inschrift tätowiert
hat: »Nach mir der Untergang.« Ein
Wort, das ihn später wenig kümmerte,
während Angéline es beherzigt hat. Dann
Jeanette, »die Unverwüstliche«, die dreimal
versuchte, sich das Leben zu nehmen,
und alle dreimal zu ihrer grossen Freude
wieder gerettet wurde. Marçeline, die
»Lehrerin«, ein ältliches, stets schwarz ge-
kleidetes, philiströs aussehendes Mädchen,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 106, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0106.html)