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das den Eindruck einer Gouvernante
macht, nie mit einem Mann gesehen
wurde, aber den Cancan mit einer Verve
und einem so verbissenen Eifer tanzt, dass
den Zuschauern der Athem stockt. Und so
noch eine Anzahl mehr, bis zu »Lou«
herab, einem reizenden Nomadenkind,
Artistenblut, noch nicht vierzehnjährig,
das in der kurzen Radfahrerhose und
dem weissen Gilet mit der Sicherheit
eines Knaben durch den Saal chassiert,
überall aufgehalten, bewundert, umarmt
und geküsst, und doch vielleicht in
diesem grossen Sumpfe nicht die einzige
unberührte Blüte — — — Marguérite und
Julienne haben Platz gefunden auf der
Balustrade des Podiums. Dort hocken sie,
die Arme um zwei Säulen geschlungen, mit
lang herabbaumelnden Beinen. Marguérite
entdeckt, dass ihr carmoisinrother Paletot
mit den grossen Hornknöpfen und dem
weissen Spitzenjabot keine Sensation mehr
ist. Madame Clerc, eine üppige Schönheit
von übernatürlichen Farben und fast weiss
gepudertem Haar, eine so auffällige
Schönheit, dass sie an öffentlichen Orten
geradezu ruhestörend wirkt, hat denselben
Paletot, nur tadelloser in der Façon und
gehoben vom Glanze der feingegliederten
goldenen Kette, an der sie ihre kleine
Schildkröte trägt.
»Alles machen sie wie wir — wir haben
nichts mehr voraus, aber auch nichts,«
sagt Marguérite ganz melancholisch, indem
sie sich zur Genossin wenden will. Aber
diese ist nicht mehr da; ein paar Schritte
weiter steht sie, am Arme eines sehr
jungen Menschen, den sie an Grösse und
wahrscheinlich auch an Lebensklugheit
überragt. Denn er sieht aus, als wäre er
direct aus den Bänken des Lyceum ent-
wichen. Und das gewandte Mädchen führt
ihn mit sicheren Bewegungen aus dem
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Schwarm. Marguérite möchte ein wenig
traurig werden, denn nun ist sie ganz
allein. Niemand will sich zu ihr gesellen
— heut. Was ist es nur mit ihr? Sieht
sie schlechter aus als sonst? Sie zieht
ihren Taschenspiegel, die Puderquaste und
die Estampe, und unbekümmert um die
anderen, die an ihr vorüberwirbeln, be-
ginnt sie zu malen, ihr blutjunges, reizendes
Gesicht mit den entstellenden Farben zu
tünchen.
Um eins geht sie nach Hause. Es
war heute nichts; Schlafen gehen: Das
wird das Beste sein. Morgen ist wieder
ein Tag.
Montmartre aber schlummert nicht,
das feurige Rad von Moulin rouge funkelt
ihr kreisend entgegen, und wie ein alter
Kneipbruder, der an den gewohnten Wirts-
häusern vorüber will, kann sie nicht
umhin: Sie muss noch einmal einkehren.
Und als sie, gegen drei Uhr morgens,
den Saal verlässt, ist ihr Kopf von Wein
und Spirituosen voll.
Ihr graut vor dem weiten Weg in
ihr Heim und mechanisch schlägt sie die
Richtung zur »todten Ratte« wieder ein.
Nur über den Platz hinüber, ein Stück
Trottoir entlang — wie bequem!
Eigentlich ist es doch schmutzig, ekel-
haft — fast entsetzlich, so aus einem
Etablissement ins andere —
Es wellt und wallt etwas in ihr, als
wollte sie sich schämen, wie damals auf
der Schulbank —
Aber hat sie nicht Herrn Leblanc ver-
sprochen, die 50 Centimes zurückzu-
bringen —
»Ich verpflichte mich« — — »noch
heute« —
Und getröstet in ihrer armen, längst
gebrochenen Moral spaziert sie wieder in
das Stammcafé.
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