Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 130

Leben Melusine (Schlaf, JohannesAltenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 130

Text

ALTENBERG: MELUSINE.

Verdriesslich zuckte er in die Höhe.

Hinter den Fliederbüschen hervor, die
ihm den Anblick der Gartenthür ver-
bargen, tauchte ein Paar auf, das sich
auf dem gelben Kiesweg der Veranda
näherte.

Ein stattlicher junger Herr, selbst-
bewusst und bescheiden, dem man den
»famosen Kerl« sogleich ansah; und an
seiner Seite eine goldblonde Walküre mit
grossen blauen Blitzeaugen und so recht
rothen und gesunden Backen.

Aber, das war ja doch die — Grete?
Nachbars wilde Grete, mit der er als
Junge so gern gespielt, und die er einmal
hatte heiraten wollen? Und — allem An-
schein nach, mit ihrem Bräutigam?

Die Überraschung traf ihn so, dass
er Herzpochen bekam.

Aber es waren nicht bloss die müden
Nerven, es war noch etwas anderes;
es war wie ein seltsames seelisches Er-
schrecken und wie ein unmittelbares,
starkes Wohlgefallen, das eine helle,
wonnige Blutwelle in ihm emportrieb.
Ein so sonderbares Wohlgefallen. Dieser
coup de foudre, der einen trifft, wenn
man sich — verliebt?

Inzwischen hatte sie ihn zwischen
dem dichten Hopfengeranke bemerkt, und
er sah, wie sie unwillkürlich stehen blieb
und ihn anstarrte, während der stattliche
Herr höflich und respectvoll seinen Cy-
linder zog.

Ah, wohl auch ein coup de foudre!—

Er kniff die Augen zusammen und
blickte sie an, halb belustigt über ihre
sichtbare Betroffenheit, halb verdriesslich
und — erschreckt?

O, o, erschreckt!

Ja, ja, wirklich erschreckt!

Unwillkürlich gieng es ihm durch den
Kopf: mein Gott, so krank sah er aus?
Aber schon hatte sie den Bann gelöst,
und die beiden betraten die Veranda.

Indessen so betroffen war sie noch
und sichtlich so von einem unwillkürlichen
Mitleid überwältigt, dass sie ihn kaum
anzureden vermochte.

»Man traut gegenseitig seinen Augen
nicht? Wie?« lächelte er.

Ein klein bisschen ungeduldig hatte er
ihr die Hand gereicht, eine feine, weisse,
magere Hand. Sie war roth geworden
bis unter die Haarspitzen. Er vermied,
ihr in die Augen zu sehen und musterte
ihren Begleiter. Gewiss, es war eine Ver-
lobungsvisite.

Und, o Novalis! Deutlich hörte er in
sich die letzte Strophe jenes Verlaine’schen
Gedichtes:

»— Qu’as-tu fait, ô toi que voilà
Pleurant sans cesse,
Dis, qu’as-tu fait, que voilà
De ta jeunesse?«

Und er fühlte einen ungeschminkten,
recht herzhaften Neid.

O Leben, Leben, Leben!

Und er musste lächeln


MELUSINE.
Von PETER ALTENBERG (Wien).

Also erstens hatte er sie wirklich
aus Verhältnissen herausgehoben, aus
Verhältnissen. Keinerlei Ordnung gab
es jedenfalls. Der war da. Und der war
da. Und der war da. Und niemand war
da. In nichts kannte sie sich mehr aus,
hatte eine riesige Güte, eine süsse
Menschenfreundlichkeit, war ganz ge-
rührt über das alles. Was thut man
mir an?! Nichts Böses. Voll liebevoller
Dinge ist die Welt. Man verstrickt sich.

Die anderen sollen entwirren. Zu Duellen
sollte es kommen. Zu Aussprachen.
Einer soll ausbleiben. Alle. Nein. Ja.
Wie wird es werden?! Man sollte so
viel rechnen. Aber man ist viel zu
träge. Wie ein Thier in der Sommer-
wärme. O wie gut. Raffe Dich auf.
Weshalb?! Wozu?! O Herr S., die
wunderschönen Veilchen!? Danke viel-
mals.

So lebte sie.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 130, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0130.html)