Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 131

Melusine (Altenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 131

Text

ALTENBERG: MELUSINE.

Der Ernst des Lebens aber lautete:
»Sie, Fräulein, was kosten diese Choco-
laten mit Himbeerfüllung?!«

»Es geht nach Gewicht. Das Deka
10 Kreuzer, mein Herr.«

So lebte sie.

Er aber hob sie heraus.

Bald sagte sie: »Du, diese Bilder
sind merkwürdig im »Pan«, hübsch
und hässlich zugleich.« »Gott, dieses
eine »Studio«-Heft hab’ ich so gern.«
»Sie, Meunier, das ist die Arbeit! Die
Arbeit. Die Arbeit. Die ganze Arbeit!
Aber so die Arbeit!«

Sie genierte sich gar nicht, gab
Urtheile, wie wenn man sagte: »Hat
es Consequenzen?! Nun also. Es wird
ja nicht gedruckt. Und Albert übrigens
amüsiert es!«

Ja. Es war die Frau, die er geträumt
hatte.

Schlechte, fade Schriftsteller würden
schreiben: »Manchmal jedoch, in seltenen
Stunden, kam ein gewisser Zug von
(von was weiss der Schriftsteller nie)
auf ihr süsses Antlitz.«

Nein, niemals kam ein gewisser Zug
von dem, was der Schriftsteller nicht
weiss, auf ihr Antlitz. Sie lernte ein-
fach zu, ohne es zu wissen; wie der
Magen verdaut, ohne sich Rechenschaft
zu geben. Sie wuchs in eine zugleich
einfachere und zugleich compliciertere
Welt von selbst hinein. Wunderbare
Reisen machten sie zusammen. Sie war
wunderschön. Und viele bedankten sich
mit Blicken für das Kunstwerk, welches
sie im Hotelsaale für nichts betrachten
durften. Immer fühlte sie: »Gott, wie
gütig ist Albert. Es scheinen sich viele
Gefahren im Leben zu befinden. Aber
sie trauen sich an mich einfach nicht
heran. Die Ordnung verscheucht sie.
Meine, unsere Ordnung.«

Einmal sagte ein Philosoph über sie:
»Sie hat verlangsamten Stoffwechsel.
Alles ist gut geölt, geschmiert, eines
fasst ins andere. Aber der Motor, das
Centrum der Bewegungsimpulse ist zu
schwächlich. Mehret die latenten Spann-
kräfte!«

»Das verstehe ich nicht,« sagte
Albert. Ȇberhaupt, Sie, was wollen
Sie damit sagen?!«

»Nichts. Schläft sie genug?«

»Ja.«

»Und sonst — — — — alles in
Ordnung?!«

»Ja.«

Einmal sagte der Philosoph: »Nun,
ein Krieg ist nichts Wünschenswertes.
Dennoch reisst er vieles mit, erzeugt
strudelnde Wirbel im Menschenmeere,
schwemmt todte schwere Sachen weg,
die Wege verlegen. Marienbader Cur
der Menschheitsträgheit. Man zählt die
Leichen und weint. Wie angenehm ist
es jedoch eigentlich, über Leichen zu
weinen. Kriege sind gut. Feige
Seelen, was schliesst Ihr Friedens-
verträge vor der Zeit
?! Lasset
hinwegschwemmen und sterben

— — —! ‚Was blickst Du traurig
der Scholle nach, die von dem
Sturzbach geschwemmt wird
?!
Aus der bewegten Kraft spriesst
an anderem Ort eine Fichte
hervor
!‘«

»Schrecklich sind Philosophen,« fühlte
Albert. »Sie kennen die Details nicht
und — — —.«

»Nein, mein Freund, aber das
Wesentliche. Bismarck wusste All-
Deutschland
! Genug!«

»Nun, heute habe ich Professor F.
consultiert. Glauben Sie, man wartet auf
Sie?!«

Aber es fehlte ihr überhaupt gar
nichts. Verlangsamter Stoffwechsel!?
Gott, man kann doch nicht immer am
Rade sitzen oder Berge kraxeln!?
Übrigens, von Albert aus — — —. Die
Welt und ihr Gerede waren ihm ziemlich
gleichgiltig. Anna soll nur radeln und
machen, was sie will.

Einmal sagte der Philosoph: »Ein
liebevoller Blick ist soviel für den Stoff-
wechsel des Organismus als 100 Kilo-
meter Radfahrt. Eine sanfte Hand-
berührung jedoch ist einer Tournee
gleichzustellen durch Tirol, die Schweiz,
Frankreich und Italien.«

Jemand erwiderte: »Sehen Sie, das
sind die Gifte.«

Alberts Gattin verstand von dem
allen einfach einen Schmarren. Sie
sagte: »Immer streiten?! Geh’ Albert,
Du fällst auf alles hinein.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 131, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0131.html)